Susanne Goga: Mord in Babelsberg, Ein Fall für Leo Wechsler, München 2014, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-21486-5, Softcover, 315 Seiten, Format: 19,2 x 12 x 2,6 cm, Buch: EUR 9,95 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 8,99.
Berlin 1926: Kommissar Leo Wechsler von der Aktiven Mordkommission hat schon vieles gesehen, doch der Mörder, der die junge Frau im Innenhof einer noblen Wohnanlage in Kreuzberg erstochen hat, hat ein wahres Blutbad angerichtet. Die Tatwaffe ist ungewöhnlich: eine rote Glasscherbe. Zu allem Überfluss kenne Leo das Opfer. Es ist Marlen(e) Dornow, mit der er nach dem Tod seiner ersten Frau Dorothea eine lockere Beziehung unterhielt. Jetzt ist er seit zweieinhalb Jahren mit der Buchhändlerin Clara verheiratet und scheut sich, seine Verbindung zu Marlen publik zu machen. Nicht wegen Clara, sondern weil er den Fall sonst an Kollegen abgeben müsste. Und er will Marlens Mörder unbedingt selbst finden. So sehr ihm der Tod seiner früheren Freundin auch an die Nieren geht: Er lässt sich nichts anmerken. Das glaubt er zumindest.
Dass Marlen davon lebte, sich von reichen Männern aushalten zu lassen, weiß Leo. Was sie inzwischen für hochkarätige Gönner hat, überrascht ihn aber doch. Bis hoch hinauf in die Politik reichen ihre Verbindungen, was die Ermittlungen nicht gerade einfach macht.
Hatte Marlen auch Kontakte zur Filmindustrie? Wenige Tage nach ihrer Ermordung wird nämlich der gefeierte Regisseur Viktor König tot in seiner Villa aufgefunden – ebenfalls erstochen mit einer Scherbe aus rotem Glas. Das kann kein Zufall sein, und doch scheint es zwischen der Dornow und Herrn König keinerlei Verbindung zu geben.
Vieles passt bei diesen beiden Fällen nicht zusammen. Was hat der Star-Regisseur mit einer abgetakelten kleinen Studioklitsche zu schaffen, wo er doch beruflich in ganz anderen Sphären schwebt? Wer ist die junge Dame mit den langen Haaren, die wiederholt in Begleitung von Marlen Dornow gesehen wurde? Hat Marlen ihre Kunden erpresst? Oder wie sonst sollte man ihre privaten Aufzeichnungen deuten?
Den Kollegen im Kommissariat fällt natürlich auf, dass Leo Wechsler etwas durch den Wind ist, auch wenn sie neben ihrer Arbeit viel mit privaten Angelegenheiten beschäftigt sind. Jakob Sonnenschein plant seine Hochzeit mit Freundin Esther Grünberg und Robert Walther ist verliebt in die Verkäuferin Jenny Blau, die als Sängerin Karriere machen möchte und mit selbst geschriebenen Liedern im Continental-Keller auftritt – bei einer Veranstaltung, die an heute Fernseh-Castingshows erinnert. Auch Clara Wechsler bemerkt die Veränderung bei ihrem Mann und fürchtet schon, es habe mit ihr zu tun. Oder, schlimmer noch, mit einer anderen Frau.
In mühsamer Kleinarbeit versuchen Leo und seine Kollegen, die Puzzleteile in den Fällen Dornow und König zu einem stimmigen Bild zusammenzusetzen. Das will nicht gelingen, bis ein Hinweis aus einer ganz unerwarteten Richtung kommt. Doch zu ahnen, was geschehen ist, ist eines, den oder die Täter zu erwischen, ist das andere. Und jemanden, der wütend oder verzweifelt genug ist, um zu morden, sollte man keinesfalls unterschätzen …
Auch der vierte Fall für Leo Wechsler besticht neben Spannung und ungewöhnlichem Romanpersonal durch Zeit- und Lokalkolorit. Reale Personen, Ereignisse und Kunstströmungen werden so geschickt in das fiktive Krimigeschehen eingeflochten, dass das ganze sehr authentisch wirkt. Man kann sich richtig bildhaft vorstellen, wie es in der Mies-van-der-Rohe-Villa des Regisseurs aussieht und hat die bekannten Bilder vor Augen, die Leo in einer Galerie betrachtet.
Interessant sind bei den Leo-Wechsler-Krimis immer die Frauenfiguren. Die sind ihrer Zeit oft voraus und beschränken sich selten auf ein Hausfrauendasein. Clara Wechsler hat journalistische Ambitionen, die Schwägerin des ermordeten Regisseurs handelt mit sanitären Anlagen und ist bei der polizeilichen Befragung von gnadenloser Ehrlichkeit. Wie befremdlich sie auf andere Menschen wirkt, ist ihr durchaus bewusst: „Wer Klosetts verkauft, kennt keine falsche Scham, meine Herren“, (Seite 166). Sogar Leos Schwester Ilse, die ihr Leben lang ausgenutzt wurde und etwas verhärmt wirkte, blüht auf, seit sie als Sprechstundenhilfe bei einer Ärztin arbeitet. Doch manch einer Frau wird der Traum von der Karriere und dem selbststimmten Leben auch zum Verhängnis.
Wenn man alle vier Leo-Wechsler-Romane kennt, ist es nicht leicht zu beurteilen, inwieweit sich Band 4 als Einstieg für Serienneulinge eignet. Die Fälle an sich sind eigenständige Geschichten, doch die Familiengeschichten von Leo und Clara sind schon ein bisschen komplex. Da könnte ein neu hinzugekommener Leser unter Umständen ins Schleudern kommen und das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben. Aber es steht ja jedem frei, das Versäumte nachzuholen und die vorigen Bände ebenfalls zu lesen: LEO BERLIN (dtv, 978-3-423-21390-5), TOD IN BLAU (dtv, 978-3-423-21487-2), DIE TOTE VON CHARLOTTENBURG (dtv, 978-3-423-21381-3).
Die Autorin
Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin mit ihrer Familie in Mönchengladbach. Sie hat außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler mehrere historische Romane geschrieben.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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