Gina Mayer: Leonore und ihre Töchter. Roman

Gina Mayer: Leonore und ihre Töchter, Berlin 2014, Rütten & Löhning, ISBN 978-3-35200847-4, Klappenbroschur, 464 Seiten, Format: 13,6 x 4 x 21,6 cm, Buch: EUR 14,99, Kindle Edition: EUR 11,99.

Abbildung: © Rütten & Löhning
Abbildung: © Rütten & Löhning

Dass die Geschichte eine gewisse Komplexität hat, ahnt man schon, wenn man sich das Personenverzeichnis anschaut: Eine Story, die sich über 90 Jahre und zwei Länder erstreckt, ein halbes Dutzend Familiennamen umfasst und in jedem der 6 Kapitel eine andere Hauptfigur zu haben scheint. Hätte man da nicht einen Familienstammbaum …? Nur so wegen der Übersichtlichkeit …? Äh – nein!

Familiengeheimnisse sind immer so eine Sache: Die Eingeweihten tragen eine schwere Last, die Nichteingeweihten spüren, dass etwas nicht stimmt, und wenn der ganze Schwindel auffliegt, fühlen sich alle Beteiligten verraten und verletzt. Einem solchen Geheimnis ist anno 1900 die 19jährige Pariserin Nanette Boucher auf der Spur.

Nanettes Vater, der Architekt Gustave Boucher, hat gerade seine Frau Dora für eine Jüngere verlassen. Nanette selbst ist frisch in den flatterhaften Bankierssohn Yves Charpentier verliebt. Mitten in das allgemeine Gefühlschaos platzt Besuch aus Ratingen in Deutschland: die Großeltern mütterlicherseits. Opa Sebastian Zeller ist nicht das Problem, aber Oma Mathilde und ihre Tochter Dora sind noch nie miteinander ausgekommen. Dazu sind sie einfach zu verschieden.

Hier ist die musisch begabte Dora, die ihren Traum von einer Karriere als Primaballerina aufgegeben hat um das langweilige Leben einer gutsituierten Ehefrau und Mutter zu führen, das ihre Familie für sie vorgesehen hat – und da ist ihre zupackende Mutter Mathilde, die in jungen Jahren notgedrungen die Geschicke des familieneigenen Tuchhandels leiten musste und nun in dieser Aufgabe vollkommen aufgeht. Kaum treffen sie aufeinander, fliegen fürchterlich die Fetzen. Nanette will nun endlich von ihrer Großmutter wissen, was die beiden für ein Problem miteinander haben. Und Mathilde erzählt …

Schritt für Schritt führen ihre Geschichten die Enkelin zurück bis ins Jahr 1813 – zu Urgroßvater Anton Seele, der sich aus ärmlichsten Verhältnissen zum erfolgreichen Tuchhändler hochgearbeitet hat, aber sich zeitlebens nie zwischen seiner Kindheitsfreundin Luise Merkels und Leonore Bredt, der vornehmen Nichte seiner früheren Arbeitgeberin, entscheiden konnte.

Wäre Anton bei Luise geblieben und hätte Leonore ihren standesgemäßen Verehrer, den Textilfabrikanten Justus Zeller geheiratet, wäre das Leben aller Beteiligten in ruhigeren Bahnen verlaufen. Aber weil sowohl Luise als auch Leonore ausschließlich Anton wollten und er von keiner der beiden die Finger lassen konnte, wurde aus einer Kinderfreundschaft erst ein Dreiecksverhältnis und dann blanker Hass. Anton heiratet Leonore, Luise landet in der Gosse und verflucht das junge Paar. Anton beeindruckt der Fluch herzlich wenig, doch Leonore glaubt fest daran, gibt fürderhin für jeden Schicksalsschlag der rachsüchtigen Luise die Schuld und verliert darüber fast den Verstand.

Natürlich sprechen Anton und Leonore nicht mit ihrer Tochter Mathilde über diese intimen Familienangelegenheiten. Aber die Magd Theres tut es. Sie kennt Anton, Luise und Leonore praktisch ihr Leben lang und ist für Mathilde eine Art Ersatzmutter. Die labile Leonore war diesbezüglich ja ein Totalausfall.

Als Leonore nach einem schweren Verlust in tiefste Depressionen verfällt, ist Mathilde Anfang 20. Sie kommt auf die Idee, Luise Merkels zu suchen und sie zu bitten, ihren Fluch zurückzunehmen. Diese selbstlose Hilfsaktion hat ihren Preis: Mathildes Leben wird komplett auf den Kopf gestellt. Und nicht nur ihres …

Es geht in dieser Familiensaga um Liebe und Loyalität, um Konventionen, Erwartungen und Abhängigkeiten – und um schwere und weitreichende Entscheidungen geht es auch.

  • Anton Seele mogelt sich um eine Entscheidung zwischen den zwei großen Lieben seines Lebens herum. Er versucht, alles mitzunehmen, was er kriegen kann und sät Unglück.
  • Leonore Bredt/Seele folgt ihrem Herzen statt der Vernunft und wird nicht glücklich dabei.
  • Mathilde Seele/Zeller macht es umgekehrt: Ihr ganzes Leben ist von Vernunftentscheidungen geprägt. Auch sie bereut so manches.
  • Mathildes Bruder Arthur pfeift auf alle Konventionen, geht seinen ganz eigenen Weg und scheitert.
  • Dora Zeller/Boucher hat sich nie gefragt, was sie selber will und sich immer nur den Entscheidungen anderer gefügt. Jetzt, mit Anfang 50, ist sie erstmals auf sich gestellt, muss ihren Weg selbst bestimmen und bedauert ihre Unselbständigkeit.

Wie man es anpackt im Leben, scheint es falsch zu sein. Immer gibt etwas zu bereuen. Jetzt liegt die Hoffnung auf der jungen Nanette Boucher. Vielleicht kriegt sie es ja besser hin.

Nicht allen Personen in dieser Geschichte gelingt es, mit den Menschen, denen sie einmal schweres Leid zugefügt haben, zu Lebzeiten ins Reine zu kommen. Dabei kann man nicht einmal behaupten, dass die Figuren besonders rücksichtslos und gemein seien. Sie versuchen lediglich, so gut wie möglich im Leben klarzukommen und ein Stück vom Glück zu erwischen.

Gina Mayer hätte die Geschichte natürlich auch streng chronologisch erzählen können, von 1813 bis 1900. Aber in mit diesen stufenweisen Rückblicken ist es interessanter. Erst nach und nach versteht man die Zusammenhänge und das Verhalten der Personen. Mathilde hält man erst für einen gefühllosen Trampel und Anton Seele für einen rücksichtslosen Despoten. Dass das nicht die ganze Wahrheit ist und dass es Gründe gibt, aus denen die beiden so geschäftstüchtig, pragmatisch und hart geworden sind, begreift man erst mit der Zeit. Dann wird einem auch klar, warum Anton gar nicht daran denkt, sich von seinem Sohn über die Zustände in der Fabriken belehren zu lassen: Er kennt das ja alles. Er hat selbst als Kinderarbeiter angefangen.

LEONORE UND IHRE TÖCHTER ist eine fesselnde Familiensaga vor dem Hintergrund der Industrialisierung, in dem fast jede Person in einer moralischen Grauzone agiert. Aber wie ist man auf diesen Buchtitel gekommen? Leonore hat nur eine einzige Tochter: Mathilde. Es sei denn man zählt Enkelinnen, Urenkelinnen und sonstige weibliche Familienangehörige dazu.

Die Autorin
Gina Mayer, geb. 1965, studierte Grafik-Design und arbeitete danach als freie Werbetexterin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Seit 2006 hat sie eine Vielzahl an historischen und zeitgeschichtlichen Romanen für Erwachsene und Jugendliche veröffentlicht. Viele ihrer Bücher spielen in ihrer Wahlheimat Düsseldorf, wo Gina Mayer mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com

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