Simone Dorra: Nachtruhe. Ein Baden-Württemberg-Krimi, Tübingen 2015, Silberburg-Verlag, ISBN 978-3-8425-1430-0, Softcover, 252 Seiten, Format: 12 x 2,2 x 18,8 cm, Buch: EUR 9,90, Kindle Edition: EUR 7,99.
„In dieser Nacht fand Jacobsen nur sehr wenig Schlaf. Er ging in seinem Zimmer auf und ab und nahm das Puzzle des Mordfalles Peter von Weyen auseinander, um es noch einmal ganz neu zusammenzusetzen. Denn jetzt gehörte der Tod von Iris Schäuble plötzlich dazu.“ (Seite 192)
Ein Pfadfinderlager im schwäbischen Auenwald – das klingt so idyllisch. Doch mit der Pfadi-Romantik ist ratzfatz Schluss, als der krimibegeisterte Sven Bender (16) früh morgens der Spur des Holzwagens folgt. Komisch … die Karre hatten sie doch am Vorabend ordnungsgemäß abgedeckt am Hackplatz deponiert. Welcher Scherzkeks hat sie über Nacht in den Wald gefahren?
Erst findet Sven einen Turnschuh, dann einen Toten: Peter von Weyen, der Leiter des Backnanger Pfadfinderbundes, hat sich an einem Baum erhängt.
Das sieht die Polizei jedoch anders. Der allseits beliebte Rechtsanwalt, Familienvater und engagierte Pfadfinder mit dem Fahrtennamen „Malenga“ (= Sänger), wurde betäubt und offenbar mit Hilfe des elektrisch betriebenen Holzfahrzeugs an einem Seil den Baum hinaufgezogen. Aber warum nur? Und von wem?
Mord an einem beliebten Pfadfinder?
Kriminalhauptkommissar Malte Jacobsen (42), der erst vor wenigen Wochen aus persönlichen Gründen von der Kripo Hamburg nach Waiblingen versetzt worden ist und derzeit bei seiner Schwester und deren Familie in Backnang wohnt, kennt sich bestens aus bei den Pfadfindern. Er war selbst mal einer. Dafür muss man ihm erst erklären, wer die von Weyens sind: Stadtadel, Lokalprominenz, eine wohlhabende Fabrikantenfamilie, deren Oberhaupt, Konrad von Weyen, 1966 den Pfadfinderbund „Impeesa“ gegründet hat. Der Ermordete war sein Schwiegersohn, der bei der Heirat den Nachnamen seiner Frau angenommen hat.
Die von Weyens werden fast wie Heilige verehrt, und Jacobsen soll ihnen bei seinen Ermittlungen um Himmels Willen nicht auf die Zehen treten! Jacobsens Kollegin, Kommissarin Melanie Brendel (33), ist eine Einheimische. Sie wird ihn schon im Auge behalten, hofft der Chef der beiden, der Erste Hauptkommissar Stefan Finkbeiner. Melanie versucht’s. Doch dem Nordlicht die schwäbische Küche nahezubringen ist leichter.
Ehefrau, Sohn und Schwiegermutter des Ermordeten stehen unter Schock. Malte Jacobsen fällt auf, dass das Verhältnis zwischen der Witwe Yvonne von Weyen und ihrer Mutter Klara recht distanziert ist. Nun, sowas kommt häufiger vor, das muss nichts mit seinem Tod zu tun haben. Immerhin: Auf Peter von Weyen lässt keiner in der Familie was kommen.
Anonyme Diffamierung bei der Presse
Ein anonymer Versuch, den Toten als Kinderschänder zu diffamieren, fällt nicht mal bei der Lokalpresse auf fruchtbaren Boden. Der Journalist, der das Schreiben bekommen hat, geht damit zur Polizei. Er kannte den Toten. Dem Mädchen, mit dem ihm hier eine unangemessene Beziehung unterstellt wird, wollte von Weyen lediglich aus einer Notlage helfen. Das kann auch das Jugendamt bestätigen.
Wenn jemand einen Grund gehabt hätte, auf Peter sauer zu sein, dann war das die 16jährige Pfadfinderin Iris Schäuble. Sie hätte zu gerne die Mädchengruppe geleitet, was von Weyen ihr aus gutem Grund versagt hat. Es kam zum großen Krach. Iris war ein intrigantes Luder und nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel. Doch mit dem Mord an Peter kann sie nichts zu tun haben – sie ist kurz vor seinem Tod bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Irgendwann sind alle Pfadfinder befragt und das Leben der von Weyens bis in die letzten Winkel durchleuchtet worden. Doch noch immer ist kein Motiv und kein Täter ins Sicht. Jeder, der auch nur den Hauch eines Grolls gegen von Weyen gehegt haben könnte, hat ein wasserdichtes Alibi.
War Iris’ Tod wirklich ein Unfall?
Wenn alles Nahliegende zu nichts führt, muss man quer denken. Was, wenn Iris Schäubles Tod gar kein Unfall war? Gäbe es für zwei ermordete Pfadfinder quasi ein übergeordnetes Motiv? Jacobsen geht der Sache nach. Und plötzlich kommt Bewegung in den Fall. Ein paar faustdicke Lügen, eine unerwartete Zeugin sowie ein verschwundenes und ein gefundenes Schmuckstück spielen eine wichtige Rolle dabei. Doch bis alle Puzzleteile am richtigen Platz liegen, ist es für die ermittelnden Beamten noch ein hartes Stück Arbeit …
Die Pfadfinder sind wirklich eine Welt für sich! Ein Glücksfall, dass sie den ermittelnden Kommissar so schnell als einen der Ihren akzeptiert haben, sonst hätten sich die Ermittlungen sicher noch viel schwieriger gestaltet. Und dank seiner angeheirateten schwäbischen Verwandtschaft kommt er auch gut mit dem Dialekt klar – andernfalls hätte er ein fettes Problem. So mancher Zeuge gibt sich nämlich nicht die geringste Mühe, hochdeutsch zu sprechen, oder er kriegt’s einfach nicht hin. Das gehört bei Regionalkrimis dazu.
Die ermittelnden Polizeibeamten sind erfreulich „normal“. Keine dunklen Geheimnisse, kein übertriebener Kulturclash, kein albernes Kollegengezicke und auch nicht gleich eine Liebesgeschichte. Malte Jacobsen hatte eine Krise und brauchte einen Tapetenwechsel. So ist er bei seiner Schwester in Baden-Württemberg gelandet. Und jetzt macht er bei der Kripo Waiblingen seinen Job – mit Sorgfalt, Hartnäckigkeit und einer enormen Beobachtungsgabe. Faszinierend, was diesem Mann alles auffällt!
Sympathische Ermittler, tragischer Fall
Der Fall selbst ist tragisch. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn die Menschen nur rechtzeitig miteinander gesprochen hätten! Einmal richtig hinschauen oder zuhören hätte vielleicht auch schon genügt. So reiht sich Missverständnis an Missverständnis, bis die Sache vollkommen aus dem Ruder läuft. Und man kann am Schluss nicht einmal sagen, wer genau versagt hat. Viele große und kleine Fehler haben sich zu einer gewaltigen Katastrophe summiert.
Der Leser ist bei diesem Krimi nicht schlauer als die Polizisten. Wir können mit Jacobsen und Brendel miträtseln, aber wenn sie auf dem Holzweg sind, sind wir’s auch. In welcher Ecke Motiv und Täter zu suchen sind, ahnt man irgendwann. Doch wie genau alles abgelaufen ist, das erfahren wir erst ganz am Schluss. Die Kaltblütigkeit und kriminelle Energie, mit der die Tat geplant und ausgeführt wurde, ist schockierend. Und selbst dem Mörder dämmert am Ende, dass er eine schreckliche Geschichte noch viel schlimmer gemacht hat …
Dem Vernehmen nach ist bereits ein weiterer Fall für Jacobsen und Brendel in Arbeit. Die zwei sind kluge, besonnene und angenehm sympathische Ermittler, ihr Privatkram dominiert nicht über Gebühr den Kriminalfall. Ich würde mich über ein Wiederlesen freuen. Und ich möcht’ gern wissen, ob Melanie Brendel ihren Kollegen doch noch dazu bewegen kann, das schwäbische „Nationalgericht“ zu probieren: Linsen und Spätzle. Bis jetzt sträubt er sich noch. Ihm gefällt nicht, wie das ausschaut. 😉
Die Autorin
Simone Dorra erblickte 1963 in Wuppertal das Licht der Welt und ist seit 1983 in Baden-Württemberg zu Hause. Die gelernte Buchhändlerin arbeitete zunächst in einem Stuttgarter Verlag und gestaltete dann als Sprecherin und Journalistin Radioprogramme für den Privatrundfunk. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Welzheim, wo sie heute als Lokaljournalistin für die örtliche Tageszeitung arbeitet.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http://www.boxmail.de