Lisa Graf-Riemann, Ottmar Neuburger: Steckerlfisch – Kriminalroman, Köln 2016, Emons Verlag, ISBN 978-3-95451-817-3, Softcover, 329 Seiten, Format: 13,6 x 3 x 20,5 cm, Buch: EUR 11,90 (D), EUR 12,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,49.
„Du hörst dich wirklich an, als hättest du nicht mehr alle Tassen im Schrank, Helmut!, schimpft er mit sich selbst. Kein Wunder, dass sein Bruder am Telefon verunsichert war. (…) Nein, ich habe alle Tassen im Schrank. Hier stimmt etwas nicht. [Die Schwester] ist ein Todesengel, das bilde ich mir doch nicht ein!“ (Seite 108)
Da ist nichts zu beschönigen: Der Unternehmer Helmut Meißner war sein Leben lang ein Stinkstiefel. Geliebt hat er allenfalls seine Arbeit und seine Frau Margarete, die für die Gattin eines konservativen Geschäftsmanns eine bemerkenswert radikale politische Vergangenheit hatte. Jetzt ist Helmut über 80, verwitwet und kinderlos. Freundschaften pflegte er er keine und der Kontakt zur Familie ist schon vor Jahren eingeschlafen. Aber Geld hat er, und so ist er in eine ebenso vornehme wie teure Seniorenresidenz am Chiemsee gezogen.
Heute renitent, morgen tot
Als alter Kaufmann überschlägt Helmut gleich mal, was Residenzleiter Anselm Bock und seine Assistentin/Geliebte Melsene Ritter an den Heimbewohnern verdienen müssen. Das ist selbst für seine Verhältnisse exorbitant. Ob da alles mit rechten Dingen zugeht? Definitiv dubios sind seiner Meinung nach die Todesfälle, die sich in jüngster Zeit hier auffällig häufen. Gut, jetzt könnte man sagen, es ist normal, dass die hochbetagten Bewohner so einer Einrichtung nach und nach versterben. Aber es trifft ja nicht die schwer Kranken, sondern die, die noch fit sind und eine eigene Meinung haben. Wer heute renitent ist, ist morgen tot.
Helmut Meißner vermutet einen Todesengel unter dem Pflegepersonal. Der Heimleitung traut er nicht über den Weg. Aus der Residenz auszuziehen ist auch keine Option, weil er damit seine Mitbewohner im Stich ließe. Helene von Hertan, die ehemalige Chefin einer Bayreuther Künstleragentur, würde ihm das nie verzeihen. Und auf die Meinung dieser kratzbürstigen Aristokratin legt er sehr viel Wert. Und Vera von Zeppelin, Ex-Galeristin und das schwarze Schaf ihrer Familie, schwebt ohne seine Hilfe vielleicht sogar in Lebensgefahr. Angeblich ist sie zusammen mit ein paar anderen Residenz-Bewohnern zur Thalasso-Therapie in Rumänien, doch er kann sie nicht erreichen, obwohl vereinbart war, dass sie Kontakt halten.
Her mit dem Neffen von der Kripo!
In seiner Sorge um die eigene Sicherheit und die seiner Mitbewohner fällt Helmut ein, dass er ja einen Neffen bei der Kripo in Ingolstadt hat: Kriminalhauptkommissar Stefan Meißner. Der steckt gerade mitten in Renovierungsarbeiten und ist wenig erbaut davon, dass ihn der Onkel, den er noch nie hat leiden können, jetzt plötzlich an den Chiemsee zitiert. Weil aber seine Lebensgefährtin/Kollegin Marlu Rosner und sein Vater keine Ruhe geben, lässt er sich breitschlagen, den Onkel am Wochenende zu besuchen.
Zwar ist Onkel Helmut immer noch sehr herrisch, unsensibel und übergriffig, aber keinesfalls senil. Das merken Stefan und Marlu schon nach wenigen Minuten. An seinem Verdacht könnte was dran sein. Die zwei Polizeibeamten zapfen ihre Kontakte an und fühlen ein paar Leuten auf den Zahn. Schwester Pia allerdings, die Helmuts Misstrauen erweckt hat, ist eher ein Engel als ein Todesengel. Sie ist tief gläubig und kümmert sich rührend um ihren Bruder, der seit 20 Jahren in einer Behinderteneinrichtung lebt. Der Leser jedoch, der hier ein bisschen mehr weiß als die Romanfiguren, traut dem Frieden nicht …
Die Polizei ermittelt. Die Rentner auch
Zur selben Zeit herrscht in der rumänischen Niederlassung der „Residenz am See“ große Aufregung: Die verwirrte Vera von Zeppelin ist abgängig. Pflegerin Catrina Radu ist schon verzweifelt auf der Suche nach ihr. Was das Erstaunliche an der Sache ist: Je länger Vera alleine durch die Gegend irrt, desto fitter wird sie. Und irgendwann wird ihr klar, woher das kommt – und dass sie jetzt klug und schnell handeln muss, wenn sie nicht das nächste Todesopfer werden will.
Daheim in Deutschland ermittelt jetzt nicht nur die Kripo, sondern auch noch Onkel Helmut und Helene von Hertan. Die zwei Senioren mögen sich zwar für die bayerische Ausgabe von Miss Marple und Mr. Stringer halten oder für James Bond und Miss Moneypenny im Unruhestand, aber sie sind nur zwei betagte Amateure, die sich mit ihren unbedachten Aktionen bald in höchste Gefahr begeben.
Um mir ein Bild von den Personen machen zu können, muss ich sie immer grob altersmäßig einsortieren können. Das hat hier ein bisschen gedauert, bis ich die Informationen zusammen hatte: Stefan Meißner müsste so an die 50 sein, seine Lebensgefährtin Marlu 35. Schwester Pia, die ich zunächst für eine alte Nonne gehalten habe, ist eine 34jährige Krankenschwester.
Die Frage ist nicht: „Wer war es?“
Obwohl der Leser schon früh erfährt, dass Helmut Meißners Ängste nicht unberechtigt sind, bleibt die Geschichte spannend. Die Frage ist hier nicht: „Wer war es?“, sondern: „Wird jemand den alten Herrn ernst nehmen und damit weitere Katastrophen verhindern?“ Natürlich interessiert auch die Frage nach dem Motiv. Und was da alles für Gaunereien im Zusammenhang mit der Altenpflege laufen, das möchte man auch gerne wissen.
Witzig ist das Geplänkel zwischen Helmut und Helene. Zu meinen Lieblingsszenen gehört die Ausfahrt der beiden mit Helmuts Mercedes. Die Helene hat vielleicht Nerven, meine lieber Mann! 😀 Auch die Popkultur-Referenzen sorgen für Schmunzelmomente: wenn berühmte Detektivpaare aus Literatur und Filmgeschichte als Vergleich herangezogen werden oder wenn’s heißt, man sei hier doch nicht in einem Regio-Krimi oder bei den „Rosenheim-Cops“ (Vorabend-Serie des ZDF). Da nimmt sich der Roman für einen Moment selbst auf die Schippe.
Alt werden ist nichts für Feiglinge
Sehr ernst dagegen wird es, wenn es um das Thema „alt werden“ geht, worüber besonders Helmut Meißner gründlich nachdenkt. Jetzt, im Alter, fragt er sich, was wirklich wichtig ist und ob er immer die richtigen Prioritäten gesetzt hat. Er spricht die Altersdepression an, den Verlust der Selbstbestimmung, den Mangel an Liebe und Zärtlichkeit und den körperlichen und geistigen Verfall. „So ist das Alter“, sinniert er. „Man ist nur noch ein welkes Blatt, und ob man die letzten siebzig, achtzig Jahre ein Mann war, vielleicht sogar ein attraktiver, kluger oder erfolgreicher, ist unwichtig geworden.“ (Seite 92) Sehr berührend ist es, wie Helmut im Geiste mit seiner verstorbenen Frau spricht, als eine junge Besucherin ihn an sie erinnert. Ganz so ein gefühlloser Klotz, wie sein Neffe glaubt, ist der Onkel also nicht.
Das Johann-Nestroy-Zitat, das dem Krimi voransteht, bringt die Sache auf den Punkt: „Lang leben will halt alles, aber alt werden will kein Mensch.“ Und so haben wir hier einen Krimi mit Spannung, Humor und Lokalkolorit – und mit einem ernsthaften Thema, das einem durchaus Stoff zum Nachdenken gibt.
Die Autoren
Lisa Graf-Riemann, geboren in Passau, studierte Romanistik und Völkerkunde und ist seit 2009 freie Autorin. Sie hat fünf Kriminalromane und mehr als ein Dutzend Sachbücher geschrieben.
Ottmar Neuburger, 1959 in Simbach am Inn geboren, studierte neuere deutsche Literatur, Physik, BWL und VWL. Er war vorwiegend im IT-Bereich tätig und arbeitet heute als Berater, Projektmanager und Autor.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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