Tessa Korber: Die Katzen von Montmartre. Kriminalroman, München 2016, btb Verlag, ISBN 978-3-442-71444-5, Softcover, 252 Seiten, Format: 12 x 2,8 x 19,2 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 8,99.
„Mit einem geschmeidigen Sprung nahm Dégas seinen Platz ein (…) „Wie ihr wisst“, erhob er seine Stimme „sind auf dem Montmartre zwei Verbrechen geschehen: der Mord an einem Menschenkind und die Entführung unserer Schwester Grisette. (…) Solche Dinge geschehen niemals zufällig zur selben Zeit. Sie hängen immer zusammen. Deshalb sagte ich Entführung, aber, Freunde, im Grunde fürchte ich, ist Grisette in einer noch viel größeren Gefahr.“ (Seite 96/97)
Sie kennen einander schon ewig, die Bewohner, Geschäftsleute und Künstler des Montmartre. Erzählt werden ihre Geschichten aus der Sicht der Katzen des Viertels.
Die Katzen erzählen die Geschichte
Der rote Bonnard ist herrenlos und lebt auf dem Friedhof. Er sieht sich als „Trostkater“. Oft setzt er sich zu den Trauernden auf eine Bank, lässt sich kraulen und hört zu. Der gefleckte Matisse gehört zum Haushalt des Andenkenhändlers Martis und treibt sich gerne bei den Gauklern und Bettlern um Sacré-Cœur herum. Die graue Grisette ist bei weitem nicht so vornehm, wie sie tut, genau wie ihr Frauchen, die Kioskbetreiberin Melanie Chauchat. Die ist mitnichten eine ehrbare Witwe, sondern eine ehemalige Prostituierte – was alle wissen, aber niemand thematisiert. Eine Lösung, mit der alle zufrieden sind.
Der herrenlose schwarze Dégas lebt im Bateau-Levoir und muss, wenn seine Erinnerungen nicht nur Einbildung sind, uralt sein. Er hat anscheinend all die berühmten Künstler, die Anfang des 20. Jahrhunderts dort gelebt und gearbeitet haben, noch persönlich gekannt. Dégas liebt die freche Grisette, was er sich jedoch lange nicht eingestehen will.
Tigerkatze Suzette wohnt bei der Konditorin Florence Valladon. Madame, die nie verheiratet war, müsste jetzt so Ende 50 sein. Sie hat ihre Familiengeschichte nie verwunden. Ihr Vater hat in jungen Jahren mit einem Freund zusammen ein benachbartes Ehepaar umgebracht und saß deshalb lebenslang im Gefängnis. Nur der dreijährige Sohn des Paares hat überlebt. Was aus ihm geworden ist, weiß kein Mensch.
Zwei Jungkater beobachten einen Mord
Katzendame Suzette, die viele Kinder gehabt hat, hat nur noch Kontakt zu ihren zwei Jüngsten: Pablo und Miró sind im Bistro des lyrikbegeisterten Monsieur Moulin zu Hause, wo sie sehr verwöhnt werden. Die Katerbrüder sind zwei rotzfreche Herumtreiber mit mehr Wagemut als Verstand. Dass ihnen auf dem Friedhof ein „schreiendes blondes Gespenst“ begegnet ist, glaubt ihnen zunächst niemand. Erst als Commissaire Jules Bonenfant mit seinen Leuten dort auftaucht, wird klar, was die beiden Jungspunde mit angesehen haben: die Ermordung einer jungen Deutschen. Sie hatte das Grab ihrer Familie besucht und ihrem verstorbenen Bruder Kinderlieder vorgesungen. Das hat der obdachlose Maler Michel mit angehört und zweifelt seither an seinem Verstand: Nie im Leben hat er Deutsch gelernt, aber dennoch hat er ihr Lied Wort für Wort verstanden. Wie kann das sein?
Ein Kind taucht auf, eine Katze verschwindet
Dann taucht wie aus dem Nichts ein kleiner dunkelhäutiger Waisenjunge in Madame Valladons Garten auf. Navid kommt angeblich aus dem Kongo, tatsächlich aber von der Elfenbeinküste. Kater Matisse freundet sich mit ihm an und Madame Valladon spielt mit dem Gedanken, den Jungen zu adoptieren, was sich aus verschiedenen Gründen als problematisch erweist. Navid steckt in Schwierigkeiten, von denen sich die brave Konditorin keinen Begriff macht. Plötzlich ist der Junge verschwunden. Und nicht nur er. Auch Madame Chauchats Katze Grisette ist abgängig. Das ist völlig untypisch für sie, da sie „ihren“ Kiosk kaum je verlässt.
Der Leser weiß, was DIE KATZEN VON MONTMARTRE nur vermuten: Die hübsche graue Katzendame wurde entführt. Aber von wem? Und warum?
Wie hängt das alles zusammen?
Was dahintersteckt und wie das alles zusammenhängt, kommt erst nach und nach ans Licht. Und das ist nicht zuletzt den Katzen des Viertels zu verdanken, die ihre Augen und Ohren überall haben und trotz aller Kabbeleien fest zusammenhalten, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht. Sie fördern so manches lange gehütete Geheimnis zutage. Und nicht für alle Bewohner werden die „Chaostage“ von Montmartre gut ausgehen …
„Kriminalroman“ steht auf dem Cover. Aber der Mordfall ist nur ein Handlungsstrang von mehreren. Es geht um die Menschen und Katzen des Viertels und um deren große und kleine Geheimnisse. Der Jahrzehnte zurückliegende Doppelmord und das Schicksal des Flüchtlingsjungen nimmt ungefähr genau so viel Raum ein wie der aktuelle Mord an dem jungen Mädchen. Ein temporeicher „Pageturner“ ist das Buch nicht. Die Sprache hat etwas Poetisches und die Katzen haben genügend Zeit, zu philosophieren, sich über die Menschen Gedanken zu machen und sich ihnen überlegen zu fühlen. Sie haben ja auch die schärferen Sinne! Und natürlich hat ein lebenserfahrener alter oder ein gerissener Junger Kater einem schusseligen und unbedarften Kerl wie Monsieur Moulins Küchenhilfe Emile einiges voraus.
Die Katzen kennen das Leben und die Menschen
Perfekt sind die Tiere aber auch nicht. Doch wer will es ihnen verdenken, dass sie nicht wissen, dass es „der“ Python heißt und nicht „die“, dass die pantoffelartigen Latschen „Clogs“ geschrieben werden und man andere „Saiten“ aufzieht und nicht „Seiten“. Es sind Katzen! So perfekt müssen sie sich in Menschenangelegenheiten gar nicht auskennen. Sie durchschauen uns gut genug. Vor allem der Friedhofskater Bonnard: „Ist Ihnen schon aufgefallen, dass auf Beerdigungen immer weniger Menschen Schwarz tragen? Und in der Zeit danach fast keiner mehr? Sie geben vor, nicht zu trauern, die dummen Leute. Sie lügen sich an. Dabei würde die Farbe ihnen Schutz gewähren, Aber so sind sie, die Menschen, freiwillig schutzlos laufen sie herum, behaupten, nichts Tiefes zu fühlen und verweigern sich der Süße des Trostes.“ (Seite 64)
Auch wenn ich mit mehr Krimi gerechnet hatte – DIE KATZEN VON MONTMARTRE sind schon ein besonderes Leseerlebnis. Katzen, die sich so klug und eloquent über ihre Menschen, das Leben, den Tod, Malerei und Poesie äußern, trifft man nicht alle Tage.
Die Autorin
Tessa Korber, 1966 in Grünstadt in der Pfalz geboren, studierte in Erlangen Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und promovierte im Fachbereich Germanistik. Bei btb hat sie bereits zwei Kriminalromane um die Bestatterfamilie Anders veröffentlicht. „Die Katzen von Montmartre“ ist ihr erster Katzen-Krimi. Tessa Korber lebt mit ihrem Mann und ihren Katzen in der Nähe von Würzburg.
Rezensent: Edith Nebel
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