Anja Goerz: Wenn ich dich hole. Thriller, München 2017, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-26147-0, Klappenbroschur, 255 Seiten, Format: 13,7 x 3 x 21,1 cm, Buch: EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A), Kindle Edition: EUR 12,99. Auch als Hörbuch lieferbar.
IT-Fachmann Bendix Steensen ist sehr häufig beruflich unterwegs, doch diese Heimreise von San Francisco wird er seiner Lebtag nicht vergessen. Als er in London zwischenlandet, hat er schon sechs entgangene Anrufe von seinem neunjährigen Sohn Lewe auf dem Handy. Der Junge ist in heller Aufregung, weil seine Mutter und seine Oma gleich nach dem Frühstück nur mal schnell ins Dorf zum Einkaufen gefahren und nun schon seit mehreren Stunden fort sind. So lange dauert das sonst nie! Und auf dem Handy sind sie auch nicht zu erreichen. Das allerdings ist ungewöhnlich, denn normalerweise lässt Insa Steensen ihr Handy immer an, vor allem, wenn Ihr Sohn allein daheim ist.
Bendix beruhigt sich mit dem Gedanken, dass die beiden Frauen sich nur irgendwo verplaudert haben und dass er ja bald in seinem Elternhaus in der Nähe von Niebüll eintreffen wird. Dann wird er ja erfahren, was los war. Es wird sich schon alles in Wohlgefallen auflösen.
Panische Anrufe vom Sohn
Tut es nicht. Es wird Mittag und seine Frau und seine Mutter sind immer noch nicht vom Einkaufen zurück. Dann setzt das Schneetreiben ein und Bendix‘ Anschlussflug nach Hamburg wird gecancelt. Die Anrufe seines Sohnes werden immer verzweifelter. Jetzt hat er sich mit seinem Hund Albert auf dem Dachboden verbarrikadiert, weil angeblich jemand Fremdes ins Haus eingedrungen ist.
Bendix, todmüde, halb verrückt vor Sorge um seinen Sohn und unendlich genervt von der Odyssee, die er noch vor sich hat, versucht, mit allen Mitteln schnellstmöglich nach Hause zu kommen und unterdes per Telefon jemanden zu finden, der zu seinem Sohn hinausfährt und dort mal nach dem Rechten sieht. Das Anwesen ist so abgelegen, dass er nicht einfach zu Lewe sagen kann „Klingle doch bei den Nachbarn!“ Doch Freunde und Verwandte sind entweder nicht erreichbar oder gerade nicht im Lande.
Endlich erwischt er den neuen „Dorfbullen“, Bruno Behrend. Der allerdings nimmt sein Anliegen nicht ernst und lässt sich von seiner Frau Karin nur zu gern davon überzeugen, dass es mit der Kontrollfahrt zum Steensen-Haus keine Eile hat.
Wo sind Mutter und Oma?
Wo sind denn nun Insa und ihre Schwiegermutter Grete? Die beiden hatten einen – offenbar inszenierten – Verkehrsunfall und finden sich gefesselt in einer fremden Scheune wieder. Wer hat sie entführt und warum? Insa gelingt es schließlich, sich zu befreien. Sie muss hier weg. Sie braucht Hilfe. Sie muss zu ihrer Familie. Aber wo ist sie hier? Sie irrt in viel zu dünner Kleidung durch Dunkelheit und Schneegestöber auf der Suche nach jemandem, der beisteht. Inzwischen sind die Mobilfunknetze ausgefallen und auch das Festnetz funktioniert nicht mehr. Sie könnte also, selbst wenn sie ein Telefon hätte, keine Unterstützung herbeirufen.
Dass ihr Sohn allein daheim ist, weiß sie nicht. Sie denkt ja, ihr Mann sei pünktlich von seiner Reise zurückgekehrt und kümmere sich um ihn.
Wer ist die Fremde im Haus?
Und was ist dran an den Ängsten des kleinen Lewe? Ist das nur die überaktive Phantasie eines intelligenten Schülers? Mitnichten! Von Anfang an weiß der Leser, dass sich Henrike Bühler, eine psychotisch wirkende Exfreundin von Bendix Steensen, Zutritt zum Haus verschafft hat, einen bestimmten Plan verfolgt und dabei auch vor drastischen Mitteln nicht zurückschreckt.
Lewe spürt es, für den Leser ist des Gewissheit: Diese Frau ist unberechenbar und brandgefährlich.
Polizist Bruno Behrend, der sich doch noch aufrafft, zu Steensens hinauszufahren, ist leider nicht so verwurzelt in der Gemeinde, dass er Henrikes tragische Geschichte kennen würde. Und so glaubt er ihr, als sie sich für Insas Cousine ausgibt, die auf den Jungen aufpasst.
Bis die Polizei in die Puschen kommt …
Es muss noch einiges passieren, bis dem Polizisten klar wird, dass da etwas nicht stimmt und der Junge in Lebensgefahr schwebt. Doch dann hat er ein Glaubwürdigkeitsproblem. Er bekommt keine Verstärkung und muss den Kleinen im Alleingang da rausholen. Und im Gegensatz zu Henrike Bühler ist Bruno Behrend unbewaffnet …
Aus verschiedenen Perspektiven wird nur ein Tag im Leben der Familie Steensen geschildert – aber war für einer! Ein real gewordener Albtraum. Die Hilflosigkeit des Vaters, der sein Kind in Gefahr weiß und zu weit weg ist, um im wirklich helfen zu können, ist nur schwer auszuhalten. Man leidet mit ihm, wenn er immer wieder aufs Neue daran scheitert, Hilfe für seinen Sohn zu organisieren. Die Mutter ist selbst in Gefahr und ahnt nicht, was die beiden gerade durchmachen. Von Gott und aller Welt verlassen kommt sich der Junge vor. Er hat nur seinen Hund, der keine große Unterstützung ist. Warum ist seine Familie verschwunden und lässt ihn allein mit dieser verrückten Frau?
Schließlich wird die Geschichte noch aus der Sicht des Dorfpolizisten erzählt. Der schiebt schon so lange eine ruhige Kugel, dass einen Ernstfall nicht mehr erkennt, wenn er einen vor sich hat. Es dauert verflixt lange, bis er sich endlich bequemt, etwas zu unternehmen. Und dann ist da noch die Erzählstimme der Täterin, Henrike Bühler. Sie holt weit aus, erzählt fast ihr ganzes Leben. Da ist einiges schief gelaufen. Es gab einen Punkt, an dem sie dringend professionelle Hilfe nötig gehabt hätte. Aber ihr war das nicht bewusst, und weit und breit war niemand, der ihr nahe genug gestanden hätte, um sich darum zu kümmern. Also hat sie sich immer weiter in ihre Wahnwelt zurückgezogen und die Sache ist eskaliert.
Kommt einer rechtzeitig zu Hilfe?
Diesen Thriller würde man am liebsten in einem Rutsch durchlesen. Der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, ist das Steensen-Haus, in dem Lewe wehrlos gefangen sitzt. Das ist gewissermaßen die „Radnabe“ des Thrillers. Auf dieses Zentrum bewegen sich aus verschiedener Richtung und unterschiedlichen Geschwindigkeiten die anderen Personen zu: Vater Bendix, Mutter Insa und Polizist Bruno Behrend. Dabei haben sie mit starken „Fliehkräften“ zu kämpfen, die es ihnen schwer machen, ihr Ziel zu erreichen: die Unbilden des Wetters, die Tücken der Technik sowie die Skepsis und das Misstrauen der Mitmenschen.
Weil die Menschen über Unangenehmes gerne den Mantel des Schweigens decken und lieber übereinander als miteinander reden, bleibt der Ernst der Lage so lange unentdeckt. Die spannende Frage ist: Schafft es wenigstens einer der Erwachsenen rechtzeitig, das Kind aus dem Haus zu holen, ehe Henrike vollkommen durchdreht?
Der Thriller zeigt, wie gesagt, nur ein paar Stunden aus dem Leben der Figuren. Da ist es nur konsequent, dass er an der Stelle aufhört, an der er aufhört, obwohl man noch gerne gewusst hätte, wie die Personen auf die schlechten Nachrichten und die entsetzlichen Erlebnisse der anderen reagieren und wie sie das wegstecken, was sie selbst erlitten haben.
Packende Unterhaltung, ein glaubwürdiges, albtraumhaftes Szenario. Und die Geschichte kommt ganz ohne ekelhafte Szenen aus. Was kann man Besseres über einen Thriller sagen?
Die Autorin
Anja Goerz, geboren 1968, ist gelernte Fotografin und seit 1989 Radiomoderatorin. Sie ist auf dem nordfriesischen Festland nahe Sylt aufgewachsen. Heute arbeitet sie beim Radiosender radioeins/rbb und beim Nordwestradio Bremen. Sie lebt mit Mann und Sohn in Falkensee bei Berlin.
Rezensent: Edith Nebel
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