Britt Reissmann: So weit das Meer uns trennt. Roman

Britt Reissmann: So weit das Meer uns trennt. Roman, Köln 2021, Emons-Verlag, ISBN 978-3-7408-1144-0, Softcover, 304 Seiten, Format: 13,7 x 2,7 x 20,6 cm, Buch: EUR 13,00 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,49.

Abb.: (c) Emons-Verlag

„Es begann in Italien und es endete in Italien, und wie im Zeitraffer zogen die Bilder längst vergangener Tage an meinem geistigen Auge vorbei: die Universita degli Studi in Florenz, die WG in der Via della Colonna, die unverwüstliche Cafetiere, die nur Karsten bedienen konnte (…). Unsere einsame Hochzeit in der Kirche Santa Trinita. Damals hing mein Himmel voller Geigen. Niemals, nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen, hätte ich geglaubt, dass es so enden würde.“ (Seite 184)

Im Leben von Nina Hoffmann, 44, hat es mehrere traumatisierende Ereignisse gegeben, die ihr eine Todesangst vor Wasser eingejagt haben. Deshalb konnte sie auch das Hobby ihres Ehemanns, eines passionierten Tauchers, nie teilen. Wegen Ninas Wasserphobie haben sie stets getrennt Urlaub gemacht. 

Eine schockierende Nachricht

Nina war stets überzeugt davon, dass er mit einem Kumpel aus dem Taucherforum ans Meer fährt. Dass das nicht so war, kommt auf dramatische Weise ans Licht: Als sie ihren Mann auf Geschäftsreise wähnt, unternimmt der Architekt in Wahrheit eine Mittelmeerkreuzfahrt mit seiner langjährigen Geliebten Sabine. Das Schiff läuft auf Grund, Sabine wird tot geborgen, Karsten gilt als vermisst. 

Nina glaubt zunächst an eine Verwechslung. Ihr Mann ist doch in Bozen! Als sie schließlich begreift, was geschehen ist, zieht ihr das den Boden unter den Füßen weg. Wieder hat ihr das Meer einen geliebten Menschen genommen. Und dieser Mensch hat sie jahrelang hintergangen! 

Jetzt, sieben Jahre nach diesem Ereignis, ist Nina immer noch in psychotherapeutischer Behandlung. Da erreicht sie aus heiterem Himmel ein anonymer Brief: Ihr Mann, heißt es darin, sei gar nicht tot. Er lebe seit sieben Jahren auf der italienischen Insel Giglio.

Sieben Jahre vermisst

Nina ist fassungslos. Kann das stimmen? Geht diese emotionale Berg- und Talfahrt jetzt wieder von vorne los? Was soll sie tun? – Ihre Therapeutin rät ihr, auf die Insel zu reisen und der Sache nachzugehen. Nina zögert. Eine Insel zu besuchen verträgt sich nicht mit ihrer Wasserphobie. Doch schließlich siegt doch ihr Wunsch nach Gewissheit.

Auf der Fähre lernt sie den Tauchlehrer Tonio kennen – eine Begegnung, die auf beiden Seiten nicht ohne Peinlichkeiten verläuft. Nina findet ihn nett, wenn auch ein wenig tollpatschig, und sie staunt nicht schlecht, als sie ihn wenig später bei ihrer Pensionswirtin Clemenza di Carlo wieder trifft. Er ist für die alte Dame so eine Art Ziehsohn, der sich nach dem Tod ihres eigenen Sohnes um sie kümmert. 

Dass Tonio eine Tauchschule hat, ist für Ninas Nachforschungen ein guter Ausgangspunkt. Vielleicht hat ihr Mann ja mal für ihn gearbeitet – oder für eine andere Tauchschule auf der Insel. So groß ist die ja nicht, man kennt sich. Tonio ist fasziniert von Ninas Geschichte – und auch von Nina selbst – und verspricht, sich umzuhören. Nina selbst klappert unterdessen die Immobilienmakler ab. Dabei macht sie zwar interessante Bekanntschaften, aber als Informationsquelle ist diese Branche ein Totalausfall. Datenschutz!

Ist Karsten noch am Leben?

Auch Tonio hat sich die Suche einfacher vorgestellt. Er kann sich nicht erklären, warum sich seine launische Assistentin Circe so vehement gegen diese Aufgabe sträubt. Nina vermutet Eifersucht. Was leider völlig grundlos ist. Denn auch wenn Nina sich zu Tonio hingezogen fühlt: Sie lässt sich da auf nichts ein! In Kürze wird sie wieder nach München zurückkehren. Und gegen die bildschöne und deutlich jüngere Circe hätte sie sowieso keine Chance. Also …! Außerdem ist da ja noch ihr Mann.

Was will Nina eigentlich tun, wenn sie Karsten tatsächlich aufstöbert? Ihn zur Rede stellen? Ihn zurück haben? Sich an ihm rächen? Die Scheidung? Oder könnte sie ihn einfach seiner Wege ziehen lassen und mit dem Kapitel abschließen? – Sie weiß es nicht.

Ihre Schuld oder seine Entscheidung?

Notgedrungen setzt sie sich auf der Insel nicht nur mit ihrer Angst vorm Wasser auseinander, sondern auch mit ihrer Beziehung zu Karsten. Wann ist ihnen ihre Liebe abhanden gekommen? War es überhaupt jemals die große Liebe, oder haben sich da nur zwei Eigenbrötler in einem fremden Land einander angeschlossen? Wären sie noch zusammen, wenn sie ihre Phobie ihm zuliebe früher in den Griff gekriegt hätte? Hat sie ihn in Sabines Arme getrieben? Und wenn der Verfasser des anonymen Briefes falsch liegt und Karsten bei der Havarie damals umgekommen ist: Ist sie dann mitschuldig an seinem Tod?

Auch ihre Wirtin Clemenza hat ein Schuld-Thema: Sie macht Federico, einen Freund ihres Sohnes, für dessen Unfalltod verantwortlich. Hätte Federico ihn damals nicht um Hilfe gebeten, würde ihr Filippo heute noch leben. Aber kann man das wirklich so sehen? Oder hat Federico Recht, wenn er sagt, dass erwachsene Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen und man nicht mehr tun kann, als sie auf die Konsequenzen ihres Tuns hinzuweisen?

Keine Zeit für Befindlichkeiten

Sämtliche (Sinn-)Suchen und Schuldfragen treten jedoch in den Hintergrund, als es zu einem mysteriösen Unfall kommt – und als ein Boot mit zwei Dutzend Geflüchteten verbotenerweise Kurs auf die Insel nimmt. In höchster Not haben individuelle Befindlichkeiten erst einmal Sendepause. Doch die Frage bleibt natürlich: Wird Nina ihren Mann finden – und welche Auswirkungen hat das auf sie und andere? Und fürchten Nina und Clemenza zurecht, dass das Meer zur Schreckliches bringt? Oder hat es auch freundliche Seiten?

Die Geschichte hat mich aus persönlichen Gründen bis in meine Träume verfolgt. Wie wäre es, wenn ein Verlust, den man betrauert hat, gar nicht real wäre? Wenn man auf einmal doch noch die Chance bekäme, Unausgesprochenes zu klären? Wenn man gar einen Neuanfang wagen könnte, falls man dies wollte? Mit dem Wissen von heute könnte man womöglich einiges besser machen als damals. In wieweit ist man für die Entscheidungen anderer verantwortlich? Und wie geht man damit um, wenn man tatsächlich einen unverzeihlichen Fehler begangen hat?

Lebensfreude und ernste Fragen

Trotz dieser ernsten Themen macht das Buch nicht schwermütig. Auf dieser wunderschönen Insel bricht die Lebensfreude auch in schweren Zeiten immer wieder durch. Es wird liebevoll gekocht und mit Genuss gegessen und getrunken, es wird getanzt, geflirtet und gefeiert. Und bei Szenen wie dem Eselrennen muss man als Leser*in schmunzeln, wenn nicht gar laut lachen.

Okay, dass Nina bei ihrer Anreise ausgerechnet Tonio in die Arme läuft, ist schon ein großer Zufall. Aber es gibt Leute, die bei einer Trekking-Tour in Nepal ihren ehemaligen Englischlehrer treffen. Früher oder später wären sich die zwei bei Ninas Suche sowieso begegnet.

Es muss nicht immer ein Krimi sein! Dieser Roman stellt interessante Fragen und hat auch ein paar mögliche Antworten parat. Das bringt einen schon ins Grübeln und geht ganz schön ans Eingemachte. Die sture Pensionswirtin mag sich in manchem irren. Aber sie hat Recht, wenn sie sagt: 

„Feiert das Leben, solange ihr es könnt. (…) Verschenkt keinen Tag, den ihr besser genießen könntet. Nutzt eure gemeinsame Zeit, denn sie ist kürzer, als ihr glaubt.“ (Seite 164)

Die Autorin 

Britt Reissmann, geb. 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie nach Baden-Württemberg kam. Seit 1999 arbeitet sie bei der Mordkommission Stuttgart. Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Romane. Ihr Krimi »Der Traum vom Tod« wurde 2009 mit dem DELIA-Literaturpreis ausgezeichnet.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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