Pia Rosenberger: Colette. Roman, Berlin 2023, Aufbau Taschenbuch / Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, ISBN 978-3-7466-4020-4, Klappenbroschur, 423 Seiten, Format: 13,2 x 3,4 x 20,2 cm, Buch: EUR 14,00 (D), EUR 14,40 (A), Kindle: EUR 10,99.
„Sie schluckte an ihrer Bitterkeit. Statt ihr die Liebe zu schenken, die sie verdient hatte, hatte er sie zu seinem Geschöpf gemacht und sich ihres Talents als Schriftstellerin bemächtigt. Dennoch erinnerte sie sich mit einem Anflug an Nostalgie an die Sanftheit seiner Hände und sein lautes Lachen. Aber heute würde sie einen weiteren Schritt auf dem Weg in die Selbstständigkeit tun.“
(Seite 380)
Burgund, Ende des 19. Jahrhunderts: Sidonie-Gabrielle Colette (*1873) hat eine modern denkende Mutter und einen weltfremden Vater, der sich nicht groß in die Kindererziehung einmischt. Heute würden wir sagen, Gabrielle und ihre Geschwister werden antiautoritär erzogen. Man könnte auch denken, sie wachsen wild und frei auf, stromern den ganzen Tag unbeaufsichtigt durch die Natur und machen, was sie wollen.
Braut ohne Mitgift
Die Mutter hat mal Geld gehabt aber der Vater hat’s durchgebracht. Nun hat Gabrielle nach ihrem Schulabschluss genau zwei Möglichkeiten: Sie kann Lehrerin werden oder jemanden heiraten, der aus irgendwelchen Gründen nicht wählerisch sein darf und eine Frau ohne Mitgift akzeptieren muss. Ihr passt beides nicht. Sie interessiert sich für die Natur und betrachtet sich als Forschende. Sie steht aber auch gern im Rampenlicht und träumt davon, irgendwas Kreatives zu machen, etwas zu schaffen, das einen bleibenden Wert hat.
Bei einer Reise nach Paris lernt sie Henry Gauthier-Villars kennen, einen Musikkritiker und angehenden Schriftsteller. Sie ist 17, er ist 31. Gabrielle ist hin und weg von ihm – und er steht auf blutjunge Mädchen, die ihn bewundern und die er formen und ausnutzen kann. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe kommt für ihn nicht in Frage. Das hat Konfliktpotential. Gabrielles Mutter ahnt das wohl, aber sie mischt sich nicht ein. Also heiraten Gabrielle und Henry und sie zieht zu ihm nach Paris.
Der Gatte zeigt sein wahres Gesicht
Ruckzuck zeigt Henry sein wahres Gesicht. Schriftsteller? Pfff! Unter seinem Künstlernamen „Willy“ publizieren Heerscharen ausgebeuteter Lohnschreiber, aber kaum je Henry selber. Vermögend? Nochmals pfff! Er kann genauso wenig mit Geld umgehen wie Gabrielles Vater und gibt immer mehr aus als er hat. Liebender, treusorgender Ehemann? Doppelt pfff! Er v*gelt alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist und macht sich einen Spaß daraus, seine junge Frau zu quälen und zu erniedrigen. Wenn er auch sonst nix auf die Reihe kriegt: Im Betrügen und „Gaslighting“ ist Henry ein Experte! Was er davon hat? Er fühlt sich überlegen, wenn er auf anderen herumtrampeln kann. Ob er eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat oder nur ein handelsübliches Ar***l*ch ist, kann man schwer beurteilen.
Er ermutigt, ja nötigt Gabrielle dazu, sich mit Frauen einzulassen. Das fände er erregend. Und es gibt ihm eine Rechtfertigung für sein eigenes Fremdgehen. Gabrielle, der Teenager vom Lande, hat ihrem manipulativen Gatten nichts entgegenzusetzen. Sie liebt ihn und meint, das müsse alles so sein. Widerstandslos tut sie, was er immer er verlangt.
Das Mädchen vom Land emanzipiert sich
Und dann tritt das ein, was Gabrielles Mutter schon vor der Hochzeit kommen gesehen hat: Gabrielle – die sich in Paris Colette nennt – bleibt nicht ewig das naive Provinzgänschen. Sie wird erwachsen. Dass Henry sie mit klugen Köpfen der Pariser Bohéme bekannt gemacht hat, fällt ihm nun auf die Füße. Colette ist intelligent, lernt schnell, hat ein Netzwerk an weltgewandten und einflussreichen Frauen und hört auf, in ihrem Ehemann den allmächtigen Herrn und Gebieter zu sehen.
Als Monsieur und Madame wieder mal pleite sind, zwingt Henry seine Frau dazu, aus ihren Tagebüchern gepfefferte Romane zu machen – die legendäre „Claudine“-Reihe – und macht ihr weis, dass die sich nur unter seinem Namen vermarkten ließen. Bücher von Autorinnen seien unverkäuflich. Die Romane werden Bestseller und kein Mensch glaubt, dass Henry/Willy sie geschrieben hat. Freundinnen wie die Autorin Rachilde (Marguerite Vallette-Eymery) liegen Colette ständig damit in den Ohren, dass ihr Mann sie finanziell übervorteile und dass sie gefälligst die Urheberschaft an ihren Büchern geltend machen solle.
Colette stellt Ansprüche
Colette versucht’s. Ihr dämmert so langsam, dass sie am längeren Hebel sitzt. Ohne sie gibt’s keine weiteren Claudine-Romane, ohne sie hat Henry kein Geld. Sie stellt Forderungen und spricht von Scheidung. Das schmeckt ihm gar nicht. Aber auch, wenn Colette sich zu einer cleveren Geschäftsfrau gemausert hat: So hundsgemein wie ihr rachsüchtiger Mann handelt, kann sie nicht mal denken …
Ja, über Colette und ihr bewegtes Leben gäbe es vieles zu berichten. Es böte locker Stoff für eine Romantrilogie. Das war auch Pia Rosenberger klar und sie hat sich auf Colettes Anfänge konzentriert: von der aufmüpfigen Landpomeranze zur Skandalnudel und berühmten Künstlerin.
„Colettes [erster] Ehemann ist ein besonderer Fall. […] Aber ohne Henry wäre Colette nicht Colette. Er bringt sie auf die Idee zu schreiben. Dank ihm entdeckt sie ihre Bise*ualität, lebt sie mit allen Konsequenzen aus und schlägt schließlich den Weg als gefeierte Varietétänzerin ein.“
(Seite 422)
Faszinierende Persönlichkeiten, prägende Einflüsse
In Paris begegnet Colette einer Vielzahl faszinierender Persönlichkeiten, die sie inspirieren und weiterbringen. Es gibt also hochinteressante Nebenfiguren, deren Leben jeweils Stoff für eigene Romane bieten würde: Polaire, Missy, Marcel Schwob und Partnerinnen, Charlotte Kinceler, Rachilde und andere mehr. Ich habe das Buch in zwei Tagen durchgelesen. Wenn man es in kleineren Portionen liest, könnte man unter Umständen den Überblick über das Romanpersonal verlieren. Colettes Familie und Freunde daheim in Burgund gibt’s ja auch noch. Aber ohne diese prägenden Kontakte wäre ihre Entwicklung nicht verständlich.
Gerade hatte ich mich mental für eine Schlammschlacht und einen Rosenkrieg gerüstet, da war das Buch plötzlich zu Ende. Ach, wie gern hätte ich Henry, den heimtückischen M*stkerl, schmachvoll untergehen gesehen! Aber vielleicht hat er auch nach Colette andere Opfer gefunden und lebte wie die Made im Speck bis an sein selig‘ Ende. Ich weiß es nicht. Irgendwo musste Pia Rosenberger eben einen Cut machen, auch wenn Colette noch so unendlich viel erlebt hat. Im Nachwort fasst sie deren weiteren Lebensweg kurz für uns zusammen.
Es wäre noch viel zu erzählen
Nicht zum ersten Mal befasse ich mich mit Colettes Lebensgeschichte. Vor mehr als 50 Jahren habe ich eine Taschenbuch-Ausgabe von CLAUDINE IN PARIS bei den Nachbarn aus dem Altpapier gefischt und gelesen, ohne alles zu verstehen. Ich war ja noch ein Kind. Später habe ich die komplette Reihe zusammengekauft, habe eine Colette-Biographie erworben und bin immer wieder über die Künstlerin „gestolpert“, meist in ihrer Eigenschaft als große Tierfreundin. Ich bin keine Colette-Expertin, aber ich fand die im Roman geschilderte Entwicklung plausibel und das, was ich gelesen habe, hat zu dem gepasst, was ich schon über sie wusste.
Henry hatte ich mir noch hassenswerter vorgestellt. Aber weil Colette seine abscheulichen Gemeinheiten lange Zeit klaglos hinnimmt, kommt man gar nicht dazu, sich so richtig über ihn aufzuregen. Man sieht ja alles mit ihren Augen.
Ist echt keine Fortsetzung geplant? Es gäb‘ da noch zwei Ehen und eine einzigartige Karriere, über die man noch so manches schreiben könnte und lesen wollte.
Die Autorin
Pia Rosenberger wurde in der Nähe von Osnabrück geboren und studierte nach einer Ausbildung zur Handweberin Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Pädagogik. Seit über 20 Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Esslingen und arbeitet als Autorin, Journalistin, Museumspädagogin und Stadtführerin.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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