Alexander Häusser: Noch alle Zeit

Alexander Häusser: Noch alle Zeit, Bielefeld 2019, Pendragon Verlag, ISBN 978-3-86532-655-3, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 280 Seiten, Format: 13,6 x 3 x 21,1 cm, Buch: EUR 24,00, Kindle: EUR 18,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Cover Noch alle Zeit
Abb.: (c) Pendragon Verlag

„Das wird schon“, hatte der Apotheker immer gesagt, wenn er die Medikamente für Mutter geholt hatte. Morphium gegen die Schmerzen. Aber es wurde nicht. Es war eine Lüge, wie alles andere auch. […] Er wollte einmal in seinem Leben die Stimme erheben, wollte brüllen, toben, hinausschreien, dass das Leben einfach so vergehen kann, ohne eine Hoffnung, ohne ein Versprechen. Dass nichts einfach schon wird. 

(Seite 148)

Der Schriftsetzer und Klavierlehrer Edvard Mellmann (62) ist kaum je aus seinem norddeutschen Kaff herausgekommen. Er lebt immer noch in seinem Elternhaus und kümmert sich um seine hochbetagte und schwer kranke Mutter. Sein Vater Oskar, ein Flohmarkthändler, ist eines Tages nicht mehr von seiner Tour zurückgekommen. Da war Edvard zehn. 

Die Mutter findet sich irgendwann damit ab, dass der Gatte wohl tot ist. Nur Edvard klammert sich an die Vorstellung, dass sein Papa noch lebt. Noch als Fünfzehnjähriger schwört er Stein und Bein, den Vater in der Stadt beim Einkaufen gesehen, jedoch wieder aus den Augen verloren zu haben.

Die Mutter wirkt ein bisschen lebensuntüchtig. Sie geht zwar zur Arbeit in die Fabrik, aber den Haushalt und den Alltag organisiert Edvard. Auch schon als Zehnjähriger. Da findet eine ungesunde Parentifizierung statt. Weil die Mutter nicht müde wird zu betonen, dass sie ohne ihren Sohn nicht klarkäme, schafft er nie den Absprung in ein eigenes Leben. Als junger Mann hätte er vielleicht die Chance gehabt – mit der Sparkassenangestellten Elsie. Doch die kapiert irgendwann, dass sie ihn nie wird von seiner Mutter loseisen können und heiratet einen Kollegen.

Jetzt ist Edvards Mutter gestorben und er räumt ihre Sachen weg. Zu seinem maßlosen Erstaunen findet er ein Sparbuch mit regelmäßigen Einzahlungen und einer erklecklichen Summe. Wo kommt das Geld her? Mellmanns waren nie auf Rosen gebettet und mussten immer sparen. Und wieso hat die Mutter das Sparbuch vor ihm versteckt?

Elsie – der Kontakt besteht immer noch – findet auf nicht ganz legale Weise heraus, dass Edvards Mutter Geld aus Norwegen bekommen hat. Da kann doch nur sein Vater dahinterstecken, oder? Hat er sich nach Norwegen abgesetzt? Aber warum? Zwar lagert im Schuppen hinterm Haus auch heute noch sein Plunder, aber außer ein paar Fotos von ihm als Soldat ist nichts Interessantes dabei. Na, vielleicht kennt man ihn ja bei seiner norwegischen Hausbank, denkt sich Edvard, leiht sich einen Koffer und reist nach Oslo.

Auf dem Schiff trifft er die Berliner Journalistin Alva (30), die in Norwegen eine Reportage über „magische Orte“ machen will. Sie betrinken sich gemeinsam an der Bar, und als Alva die Zugangskarte für ihre Kabine nicht mehr findet, lässt er sie ohne Hintergedanken in seiner übernachten. Man hat die beiden für Vater und Tochter gehalten, und so nimmt Edvard diese Bekanntschaft auch wahr. Umso entsetzter ist er, als er am nächsten Morgen feststellen muss, dass Alva ihm 10.000, – schwedische Kronen gestohlen hat. Ein Notfall, rechtfertigt sie sich vor sich selbst. Ihr Handy ist über Bord gefallen, und sie muss doch für ihre kleine Tochter Lina erreichbar sein, die in Berlin bei der Oma ist und sie sicher schmerzlich vermisst.

Wenn sie für das Kind nicht erreichbar wäre, würde ihre Mutter ihr noch mehr Schuldgefühle einreden. Und Vorwürfe macht Alva sich schon selbst genug. Von klein auf hat man ihr eingeimpft, dass alles, was sie denkt, fühlt und tut, falsch sei. Und jetzt glaubt sie, sie versage als Mutter wie sie auch als Tochter und Lebenspartnerin versagt hat. Tatsächlich ist sie froh, einmal ein, zwei Wochen aus dem Alltagstrott rauszukommen und nicht ständig von ihrer Tochter gefordert und von der Mutter kritisiert zu werden. Wenn einen das zu einem schlechten Menschen macht, gibt’s ziemlich viele davon.

In Oslo laufen sich Alva und Edvard wieder über den Weg und kommen zu einer schrägen Übereinkunft: Er macht kein Theater wegen des gestohlenen Geldes, wenn sie ihm bei der Suche nach seinem Vater hilft. Für sie ist das in Ordnung, und er ist gottfroh. Wie käme er sonst in entlegenere Gegenden des Landes? Er hat keinen Führerschein, und eine Tagesfahrt entfernt, in Honningsvåg, lebt ein Hobbyhistoriker, der sich mit alten Fotos auskennt und ihm vielleicht weiterhelfen kann.

Jetzt sind die beiden Einzelgänger also gemeinsam unterwegs. Sie erfahren mehr voneinander, gehen einander aber auch ziemlich auf die Nerven. Alva hält Edvard für reichlich seltsam, weil er immer wieder so in seine Gedanken und Erinnerungen versinkt, dass er von seiner Umgebung nichts wahrnimmt. Und Edvard findet, Alva sei anstrengend und viel zu neugierig. Es kann nicht angehen, dass sie in seinen Unterlagen kramt und seine Briefe liest! Er kümmert sich ja auch nicht darum, wenn sie mit ihrer Mutter am Telefon streitet und ihr Töchterchen nicht mit ihr sprechen will.

Während Edvard mit Hilfe des Hobbyhistorikers Isak Lemskø der Vergangenheit seines Vaters nachspürt, erhält Alva eine Hiobsbotschaft aus Berlin: Ihre Tochter ist verschwunden. Alva lässt alles fallen und fliegt nach Hause. 

Ob jeder findet, was er sucht und bekommt, was er braucht?

Es ist ein Buch wie ein „Roadmovie“, aber an die gedankenschwere Sprache, die inneren Monologe und die exakten Beobachtungen musste ich mich erst gewöhnen. Man teilt stets die Überlegungen, Gefühle und Erinnerungen der beiden zufälligen Reisegefährten und kommt ihnen dadurch sehr nahe. Sowohl Edvard als auch Alva sind geprägt, ja geschädigt von ihren Familiengeschichten. Jetzt suchen sie Halt, Kraft und Mut für eine Veränderung. Können sie das einander geben oder sind sie dazu zu schwach? Haben sie wirklich „noch alle Zeit“, ihr Leben in eine positive Richtung zu wenden, oder ist es dafür schon zu spät?

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie und warum dieses Buch in meinen Besitz gelangt ist. Es ist in die zweite Regalreihe gerutscht, und jetzt habe ich es gelesen. Vermisstenfälle finde ich immer ausgesprochen spannend, und auch wenn der Roman kein Krimi ist, wollte ich, genau wie Edvard, unbedingt herausfinden, was aus Oskar Mellmann geworden ist. Alvas Probleme konnte ich ebenfalls gut nachvollziehen, war aber ständig versucht zu sagen: „Gute Frau, suchen Sie sich professionelle Hilfe. Machen Sie eine Therapie, sonst wird das nix!“

Alexander Häusser, geboren 1960 in Reutlingen, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen; darunter den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Sein Roman »Zeppelin!« wurde verfilmt und lief bundesweit in den Kinos. Häusser lebt mit seiner Familie in Hamburg. https://www.alexanderhaeusser.de

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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