Stacey Halls: Die Verlorenen. Roman

Stacey Halls: Die Verlorenen. Roman, OT: The Foundling, aus dem Englischen von Sabine Thiele, München 2021, Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, ISBN 978-3 86612-495-0, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 377 Seiten, Format: 12,8 x 3,8 x 21 cm, Buch: EUR 22,00 (D), EUR 22,70 (A), Kindle: EUR 18,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Pendo / Piper Verlag

Aus irgendeinem Grund hatte ich das Buch unter „Fantasy“ abgespeichert. Ist es aber nicht. Es ist ein historischer Roman, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts in London spielt. Mit viel Spannung, Gefühl und Drama ist das genau der Stoff, aus dem man in meiner Jugend einen Weihnachts-Vierteiler fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen gedreht hätte. Die Boomer wissen jetzt Bescheid, ja?

London 1747: Die junge Elizabeth „Bessie“ Bright lebt zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder Ned in einer ärmlichen Behausung und verkauft Krabben auf dem Markt. Die Aufmerksamkeit des reichen Kaufmanns Daniel Callard schmeichelt ihr – auch wenn sein Interesse wohl hauptsächlich ihrer beachtlichen Oberweite gilt. Die flüchtige Liaison hat Folgen: Bessie wird schwanger und der verheiratete Kaufmann ist über alle Berge.

Bessie und ihre Familie können unmöglich noch eine vierte Person durchfüttern. Vielleicht würde es funktionieren, wenn nicht ihr nichtsnutziger Bruder alles Geld, das ins Haus kommt, gleich versaufen würde. Aber es ist wie es ist, und so bringt Bessie ihre neugeborene Tochter in das Foundling-Hospital, ein Waisenhaus am Rande der Stadt. Sollte sie ihr Leben so geregelt bekommen, dass sie das Kind selbst großziehen kann, kann sie es wieder abholen. Das ist alles schriftlich fixiert.

Sechs Jahre später ist es so weit: Bessie hat genügend gespart und will ihre Tochter nach Hause holen. Doch im Heim sagt man ihr, dass das Kind bereits kurz nach seiner Aufnahme wieder abgeholt worden sei – von seiner Mutter. Die hätte alle notwendigen Informationen und Unterlagen gehabt. Bessie ist wie vom Donner gerührt. Sie hat ihr Kind garantiert nicht geholt. Aber wer dann?

Dr. Elliot Meade, der Arzt, der das Waisenhaus betreut, ist bereit, ihr bei der Suche nach dem Kind zu helfen, auch wenn Freunde und Verwandte das für ein aussichtsloses Unterfangen halten. Doch Bessie hat bereits einen Verdacht.

Unter falschem Namen lässt sie sich als Kindermädchen in dem vornehmen Haushalt anstellen, in dem ihre Tochter mutmaßlich lebt. Sie hat sofort einen guten Draht zu der kleinen Charlotte. Das ist kein Wunder, denn zu ihrer „Raubmutter“ Alexandra (40) hat Charlotte ein sehr distanziertes Verhältnis. Die Frau ist zwar klug und wohlhabend, aber psychisch gestört, seit sie als Kind als einzige einen Raubüberfall überlebt hat und mitansehen musste, wie ihre Familie brutal ermordet wurde. Seit damals ist sie voller Angst und Misstrauen, meidet Menschen und verlässt das Haus nur, um sonntags in die Kirche zu gehen. Sie betritt nicht einmal ihren eigenen Garten. Und „Tochter“ Charlotte muss ganz genau so leben.

Normal ist alles, woran man sich gewöhnt hat. Charlotte kennt das Leben da draußen nur aus Büchern und vermisst nichts. Erst als ihr das lebhafte neue Kindermädchen von Gärten, Wäldern, Zoos und Jahrmärkten vorschwärmt und von Freunden, Verwandten und anderen Kindern berichtet, ahnt das Mädchen, was es alles verpasst, und fühlt sich auf einmal in seiner kleinen Welt gefangen.

Wenn Alexandra nur eine Angststörung hätte, könnte man damit noch umgehen. Doch als sie sich einmal erschreckt, rastet sie vollkommen aus und attackiert Charlotte, Bessie und Dr. Meade mit einem Schürhaken. Jetzt ist für Bessie Schluss mit lustig. Hier ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher! Da kann das Kind nicht bleiben! Sie schnappt sich ihre Tochter und läuft mit ihr Hals über Kopf davon.

Aber wohin auf die Schnelle? Sie hat kein Geld und natürlich hetzt Alexandra ihr sofort einen privaten Ermittler hinterher. Hilfe erhält Bessie von dem Fackelträger Zoran „Lyle“ Kozak, mit dem sie sich in jüngster Zeit angefreundet hat. Ein neues Leben auf dem Land schwebt den dreien vor. Doch wo eine reiche Dame jemanden suchen lässt, da sind die Aasgeier und Verräter nicht weit …

Es war faszinierend zu sehen, wie die einfachen und die wohlhabenden Menschen damals gelebt haben. Die Unterschiede werden besonders deutlich, weil zentrale Figuren das Milieu wechseln. Das arme „Krabbenmädchen“ Bessie dürfte sich in Alexandras Haushalt wie im Himmel vorgekommen sein – bevor es begriffen hat, dass das auch nur eine komfortabel ausgestattete Hölle ist. Und die kleine Charlotte weiß gar nicht, wie ihr geschieht, als Bessie sie aus ihrem goldenen Käfig zerrt und sie in ihr Elendsviertel bringt. 

Spannend war die Geschichte auch: Wie wird es weitergehen mit dem Mädchen und seinen zwei Müttern? Wer wird gewinnen? Wenn es Bessie und Alexandra nur ums Rechthaben geht, wird Charlotte entweder in bitterer Armut oder in Einsamkeit und Isolation aufwachsen. Dem Kindeswohl dient beides nicht. Und so wenig ich die psychisch labile Alexandra mag: Ihr das Kind einfach wieder wegzunehmen, fände ich auch nicht fair. Schließlich hat sie sechs Jahre lang bestmöglich für Charlotte gesorgt, als Bessie das nicht konnte. Wer weiß, ob die Kleine die Zeit im Heim überlebt hätte?

Hier ist eine kreative Lösung gefragt, wie immer die auch aussehen könnte. Was also werden sie tun?

Womit ich meine Probleme hatte: Mit der Motivation der Figuren. Ich hätte Stein und Bein geschworen, dass Dr. Elliot Meade in alles eingeweiht ist und Bessie ganz bewusst in Alexandras Haushalt eingeschleust hat. Aber anscheinend nicht! – Im Ernst? Dieser kluge Mann konnte sich keinen Reim auf die Geschichte der beiden Frauen machen, obwohl er Charlottes Vater gekannt hat? Das glaub‘ ich nicht! 

Um den Doktor so einzuwickeln, wie es hier geschildert wird, hätte Bessie das von Anfang an geplant haben müssen. Aber sie hat ihn kennengelernt, als sie in einer verzweifelten Lage war und er der einzige, von dem sie Hilfe erwarten konnte. Denkt man sich in so einer Situation komplizierten Bullsh*t aus? So gerissen und abgebrüht ist die Heldin nicht.

Auch wie das Kind in Alexandras Haushalt gekommen ist, hat mich nicht restlos überzeugt. Ich hätte erwartet, dass diese menschenscheue Frau sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, ein Baby aufzunehmen: „Nein, das will ich nicht! Das bringt meine Routine durcheinander. Ich kenne mich mit Kindern nicht aus. Das ist mir lästig!“

Aber gut. Der Roman bietet Zerstreuung, Unterhaltung und ist was fürs Gemüt. Vor Begeisterung ausflippen muss man jedoch nicht. 😊 Es gibt noch weitere historische Romane der Autorin, die auch in diese Richtung gehen. Doch mir ist das – sorry! – ein bisschen zu viel Weihnachts-Vierteiler-Kitsch.

Stacey Halls wurde 1989 geboren und wuchs in Lancashire auf. Sie studierte Journalismus an der University of Central Lancashire und veröffentlichte bereits Artikel bei diversen Publikationen, wie z. B. The GuardianStylistPsychologiesThe IndependentThe Sun und Fabulous. Ihr erster Roman »The Familiars« erschien 2019 und wurde sofort zum Bestseller.

Verena Wolfiengeboren 1977, stand u. a. am Altonaer Theater, am Ernst Deutsch Theater sowie am Ohnsorg-Theater auf der Bühne und ist in zahlreichen Filmen und TV-Serien zu sehen. 2012 gewann sie beim Nevada Filmfestival den Golden Reel Award für ihre schauspielerische Leistung in »Schlafende Hunde«. Außerdem wirkt sie als Sprecherin in verschiedenen Hörspielproduktionen mit und leiht ihre Stimme Hörbüchern und Dokumentationen.

Jodie Ahlborn machte ihre Ausbildung an der Schauspielschule in Hamburg. Sie ist in diversen Film- und Fernsehrollen, u. a. in der »Lindenstraße« und in »Stubbe«, zu sehen und war bereits in vielen Hörspielen wie »Die drei !!!« zu hören. Für ihre Lesungen wurde sie mehrfach mit einer Platzierung auf der hr2-Hörbuchbestenliste geehrt.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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