Ulrike Renk: Am Fluss der Zeiten. Historischer Roman (Hof Kalmule, Band 1)

Ulrike Renk: Am Fluss der Zeiten. Historischer Roman (Hof Kalmule, Band 1), Köln 2024, Bastei Lübbe AG, 978-3-7577-0066-9, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 542 Seiten, Format 14,4 x 4 x 21,8 cm, Buch: EUR 14,00, Kindle: 14,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Bastei Lübbe

„Lieber Gott, warum hast du diese Welt so erschaffen? Warum kann man gegen jemand anderen getauscht werden, als wäre er ein Stück Vieh oder eine Truhe? Ich bin doch ein Mensch wie Wilhelm Valcke oder Bernhard von Oer auch, nur dass ich eigenbehörig bin und sie frei sind.“ 

(Seite 470)

Bei Ulrike Renks historischen Romanen ist stets interessant, wie sie auf das jeweilige Thema gekommen ist. Dieses Mal hat ihr Bruder sie auf die Idee gebracht. Als Historiker und Genealoge ist er bei der Erforschung der eigenen Familiengeschichte auf Vorfahren aus der Gegend von Münster gestoßen.

„Münster im 16. Jahrhundert, die Zeit der Reformation, Luther, die Täufer … […] So wirklich hatte ich mich […] nie mit dieser Zeit beschäftigt. […] Wie haben die Menschen damals gelebt? […] Ich fragte meinen Bruder, er erzählte.“ 

(Seite 530)

Das war der Beginn der vorliegenden Geschichte über die Bauernfamilie des Hofs Kalmule. 

Ganz vorn im Buch wird schon darauf hingewiesen, dass es im Anhang ein Personenverzeichnis und ein Glossar gibt. Beides ist sehr hilfreich und ich habe regen Gebrauch davon gemacht. Von der Epoche, in der das Buch spielt, hatte ich nämlich nur eine vage Ahnung. Doch wie Menschen andernorts und zu anderen Zeiten leben und gelebt haben, interessiert mich. Wenn das hinreichend weit von meiner eigenen Lebenswirklichkeit entfernt ist, brauche ich nicht einmal viel Drama, dann bietet schon der Alltag an sich genügend Spannung und Exotik. Aber Drama gibt’s hier durchaus! Und streckenweise wird’s regelrecht gruselig. 

Doch von vorn! 1551: Das Leben ist hart für die einfachen Leute, nicht nur für die Bewohner des Hofs Kalmule nahe Lüdinghausen. Neben den Bauersleuten Heinrich und Gesa leben und arbeiten dort noch deren drei erwachsene Söhne Drees, Claes und Ludger, die Töchter Elze (17) und Nele (14), Drees‘ junge Ehefrau Käthe sowie die Schwester des Bauern, Stine. Alle haben mit Feld, Vieh, Nutzgarten und Haushalt mehr als genug zu tun.

Tante Stine ist ein bisschen seltsam. Heute würde man wohl sagen, sie leidet unter einer nicht behandelten posttraumatischen Belastungsstörung. Manche Ereignisse wie z.B. extreme Wetterlagen oder Einbußen bei der Ernte triggern sie und sie prophezeit den Weltuntergang. Die Familie erklärt ihr Verhalten damit, dass ihr vor 20 Jahren als Magd in Münster Furchtbares widerfahren sei. Unbedarfte Menschen wie ihre Neffen und Nichten (und Leser:innen wie ich) denken, dass sie womöglich an einen übergriffigen Dienstherrn geraten ist. Doch die Wahrheit ist viel schlimmer und kommt erst nach und nach ans Licht: Stine war zur Zeit der Täufer in Münster und hat dort unvorstellbare Gräuel erlebt.

Wie ist ein Bauernmädchen wie Stine überhaupt auf die Idee gekommen, zum Arbeiten nach Münster zu gehen? – Gar nicht! Ihr Grundherr hat sie dort hingeschickt. Die Eigenbehörigen damals waren von ihren Grundherren ebenso abhängig wie von den Naturgewalten. Ob heiraten, erben oder die Übernahme des elterlichen Hofs: Der Grundherr bestimmte überall mit – und kassierte.

1552: Nach einem Arbeitsunfall während einer Flutkatastrophe kann Bauer Heinrich den Hof nicht mehr selbst bewirtschaften. Sohn Drees soll übernehmen – aber das wird teuer! Claes würde gerne als Müller arbeiten und eine Bauerntochter von einem benachbarten Hof heiraten. Auch das kostet. Bruder Ludger wird sich überhaupt keine Familie leisten können. 

Und Elze? Die hat gar keine Kontrolle über ihr Leben und wird von den hohen Herren herumgeschoben wie eine Spielfigur. Für sie kommt’s wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dass Amtmann Valcke sie als Magd zum Domherren Jobst von der Recke schickt. Ausgerechnet nach Münster, in die Stadt, von der sie bisher nur die schrecklichsten Dinge gehört hat!

Weil Elze sich immer nur im Dunstkreis ihres Hofs bewegt hat und ihr schon mulmig wird, wenn sie zur nahegelegenen Burg Kakesbeck gehen muss, um z.B. Heilmittel von der Kräuterfrau zu holen, ist es kein Wunder, dass sie vor ihrem einjährigen Pflichtdienst in Münster große Angst hat. Viel Zeit zum Grübeln bleibt ihr nicht: Kaum hat sie von ihrem Umzug erfahren, sitzt sie auch schon mit ihren paar Habseligkeiten auf einem Wagen und muss Familie und Heimat verlassen.

Der Dienst an sich ist halb so schlimm. Elze arbeitet als Küchenmagd, und in der Küche kennt sie sich aus. Sie lebt sich ein. Und nachdem sich der Schreiber Otbert endlich von seiner Verblüffung darüber erholt hat, dass Elze, wie ihre ganze Familie, lesen und schreiben kann – Tante Stine hat ihnen das beigebracht – findet sie in ihm einen väterlichen Freund.

Doch dann machen Gerüchte über eine drohende Belagerung der Stadt die Runde. Irgendwelche Händel um hochrangige Posten sind der Grund. Elze verfällt in Panik. Wiederholt sich die Geschichte? Wird es ihr genauso ergehen wie seinerzeit ihrer Tante? – Es hilft nichts: Ein halbes Jahr muss sie noch ausharren, bis sie wieder nach Hause darf.

Wieder kommt alles anders: Obwohl Elze weiß, dass die Grundherren nach Belieben eigenbehörige Frauen tauschen können, ist sie nie auf die Idee gekommen, dass es eines Tages sie treffen könnte. Weil eine Auswärtige in den Bereich von Elzes Grundherrn einheiraten möchte, steht deren Grundherr eine „Ersatzfrau“ zu. Die Wahl fällt auf Elze. Ein Mitspracherecht hat sie nicht. Was das bedeutet? Dass sie nie wieder auf den Hof ihrer Familie zurückkehren wird! 

Warum ausgerechnet Elze? Ein Zufall? Eher nicht …

Es hat ein wenig gedauert, bis ich mich in Elzes Welt zurechtgefunden habe: Viele neue Vokabeln, unbekannte Sachverhalte, befremdliche Regeln und Gesetze. Dieser Frauentausch des 16. Jahrhunderts hat mich regelrecht schockiert und ich habe mit Elze mitgelitten. Doch sie bleibt meist erstaunlich gelassen. Obwohl sie genau weiß, was sie kann und sich im Kreis der Bediensteten auch durchsetzt, ist sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst. Andere bestimmen über ihr Leben, und es bleibt ihr nichts anderes übrig als sich zu fügen und das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Das ist auf jeden Fall eine gesunde Einstellung.

Auch wenn ich mit Elzes Schwägerin, diesem Herzchen, noch nicht ganz fertig bin und gerne sähe, wie das Leben sie zurechtstutzt: Dieses Buch erzählt eine abgeschlossene Geschichte. Wenn ich den Klappentext richtig interpretiere, wird es in den Folgebänden wohl um die Hofbewohnerinnen und -bewohner der nächsten drei bis vier Generationen gehen. – Was auch immer die Autorin für die Fortsetzungen geplant hat: Ich bin bereit für die nächste spannende „Zeitreise“ in die Vergangenheit!

Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Die SPIEGEL-Bestseller-Autorin greift dabei wahre Begebenheiten auf und schreibt über Menschen, deren Leben nie in Vergessenheit geraten soll.

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Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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