Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt

Harald MellerKai MichelCarel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte, München 2024, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28438-7, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 368 Seiten, Format: 14,7 x 3,7 x 21,8 cm, Buch: EUR 28,00 (D), EUR 28,80 (A), Kindle: EUR 22,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) dtv.de

In meiner Kindheit habe ich alles gelesen, was ich über Schimpansen finden konnte. Seither weiß ich, wie gnadenlos unsere tierischen Verwandten gegen Verbände von Artgenossen vorgehen, die mit ihnen um Ressourcen konkurrieren: Sie überfallen sie gezielt und töten sie. Deshalb war ich überzeugt davon, dass das Programm „wir gegen die anderen“ ganz tief in unseren Genen steckt. Ich habe geglaubt, dass wir Menschen nicht dafür geschaffen sind, miteinander auszukommen.

Wir sind nicht wie die Affen

Es hat mich gefreut, hier von einem Archäologen, einem Historiker und einem Biologen zu erfahren, dass wir dank unseres Verstandes doch ein bisschen mehr Entscheidungs- und Handlungsspielraum haben als ein Affe. Wir nutzen das nur nicht immer.

Krieg ist nicht ewig. Menschheitsgeschichtlich betrachtet, hat er sich vor erstaunlich kurzer Zeit an die Seite der Menschen gestellt. Es handelt sich also um eine Anomalie, eine Verirrung. 99 Prozent der Evolution kamen Menschen ohne ihn aus. Damit steht fest: Wir haben das Potential, in Frieden zu leben.“

(Seite 329/330)

Wann haben wir den Krieg gewählt?

Ja, aber wann und warum haben wir uns gegen den Frieden und für den Krieg entschieden? Ja, nun: Als die Menschen noch mobile Jäger und Sammler waren, besaßen sie nur das, was sie unterwegs tragen konnten – nichts, was bei anderen Begehrlichkeiten wecken könnte. Es gab genügend Platz und Nahrung für alle, also weit und breit keinen Grund dafür, sich mit anderen Menschengruppen anzulegen. Im Gegenteil! Weil es keine Vorratshaltung gab, tat man gut daran, sich eine positive Reputation zu erarbeiten und sich mit den anderen gutzustellen, um im Notfall Hilfe zu bekommen. Kooperation statt Konfrontation.

Mit der Sesshaftigkeit fing alles an

Das änderte sich, als die Menschen sesshaft wurden. Dafür sind wiederum klimatische Veränderungen mitverantwortlich. Details dazu finden sich im Buch. Als die Menschen begannen, zu fischen, standorttreues Kleinwild zu jagen, Nutztiere zu halten, Garten- und Ackerbau zu betreiben, statt nomadisch zu leben und gemeinschaftlich große Tiere zu jagen, gab es auf einmal Konfliktpotential. Plötzlich hatten die Leute Eigentum zu schützen: Tiere, Felder und Vorräte. Es gab Diebe, die sich auf bequeme Art die Früchte ihrer Arbeit zunutze machen wollten und es gab Nomaden, die gar nicht verstanden, wieso Tiere und Pflanzen, die doch immer für alle da waren, auf einmal in Privatbesitz sein sollten. Die haben das Konzept überhaupt nicht kapiert und haben sich einfach bedient. Und schon gab’s Ärger.

Hat man sich anfangs mit den Werkzeugen bekämpft, die man als Jäger oder Bauer eben hatte, entwickelte man mit der Zeit Waffen, die explizit dafür entwickelt wurden, andere Menschen zu töten.

Die Professionalisierung des Krieges

Die sesshafte Lebensweise war erfolgreich, die Bevölkerungsdichte stieg, und auf einmal gab’s Krach mit den Nachbarn – auch wieder um die Ressourcen. Gute Böden oder ertragreiche Fischgründe sind eben nicht beliebig vermehrbar, und natürlich wollte jeder das Beste für sich haben. Man konnte oder wollte nicht einfach weiterziehen, wenn’s Probleme gab, sonst hätte man ja alles bisher Erreichte aufgeben müssen. Und so kam es zu handfesten Auseinandersetzungen.

Nun kann man aber auf Dauer nicht sein Vieh versorgen, Felder bestellen und sich gleichzeitig mit den Nachbarn bekriegen. Die Kriegsführung wurde also mit der Zeit professionalisiert. Es gab Leute, die nichts anderes taten als zu kämpfen.

Der Staat als „Schutzgeld-Erpresser“

Aus dieser Situation heraus sind auch die Staaten entstanden. Im Prinzip war das eine „Schutzgeld-Erpressung“: „Wir verteidigen euren Besitz mit unseren Soldaten, aber nur gegen Sachleistungen und/oder den unentgeltlichen Einsatz eurer Arbeitskraft.“– Jetzt lebten die Leute zwar sicherer als vorher, aber sie büßten dafür ihre Freiheit ein. Vielleicht war man als „Barbar“ doch besser dran. Man konnte zumindest frei über sein Leben entscheiden. Und darüber, welche Konflikte man austrug und welche nicht. Der Arbeitseinsatz der Untertanen umfasste dagegen oft auch den Militärdienst. Man konnte von den Herrschern also in den Krieg geschickt werden. Das gab’s vorher nicht.

Kurz blitzt hier der Gedanke auf, ob diese ganze Kriegsführerei nicht vielleicht auch eine Ersatzhandlung war für die Männer, die sich nun nicht mehr bei der Großwildjagd als Helden hervortun konnten. Beim Hasenjagen, dem Versorgen von Nutzvieh und der Feldarbeit bleibt ja nicht viel Raum für Heldentaten. Klingt ketzerisch, halte ich aber für möglich. Den Menschen war immer ihre Reputation wichtig, und irgendwie mussten sie sie ja erwerben.

Ein einträgliches Geschäft

Auf jeden Fall waren Kriege aus vielerlei Gründen ein einträgliches Geschäft. Das System erhielt sich selbst. Nur die Untertanen hatten nicht viel davon. Aber wo hätten sie schon hingehen können, um dem System zu entkommen?

„Ohne sich dessen bewusst zu sein, imitierten die Despoten des Altertums Ameisenstaaten, wo alle für das Wohlergehen und die massenhafte Fortpflanzung der Königin schuften müssen. Nur dass in den Staaten ein Mann an der Spitze steht […]. Eine erstaunliche Entwicklung für eine so egalitäre Art wie den Homo sapiens.“ 

(Seite 262)

Auch ein probates Mittel im Krieg: Terror! Hat man als Herrscher oder als Volk erst einmal den Ruf erworben, überdurchschnittlich brutal und grausam zu sein, wird’s keiner wagen, sich mit einem anzulegen oder im Kriegsfall vehement Widerstand zu leisten. Auch das hat seinen Sinn, denn man will seine Feinde ja nicht vernichten (müssen), sondern ihnen Tribute abpressen. Und dazu braucht man sie lebend …

Zeitgenossen: Krieg und Misogynie

Was ebenfalls zusammen mit den Kriegen Einzug hielt: die Misogynie. Auf einmal werden Frauen als Eigentum des Clans betrachtet, die man vor fremden Übergriffen schützen und deren Freiheit man einschränken muss. Verstoßen sie gegen das Diktat absoluter Treue und Reinheit und bringen damit „Schande“ über die Gemeinschaft, werden sie bestraft bzw. getötet. 

Die Vergewaltigung von erbeuteten Frauen durch einen Feind ist ein Akt der Inbesitznahme und eine Demütigung der gegnerischen Frauen und Männer. Im Extremfall steckt hinter einer Massenvergewaltigung eine genozidale Absicht: Das gegnerische Volk soll ausgelöscht werden, indem man seine Frauen zwingt, fremden Nachwuchs zur Welt zu bringen. In patriarchalischen Gesellschaften kommen sie wegen der angeblichen „Schande“ auch nicht mehr Ehefrauen in Frage.

Was hält die Herrscher an der Macht?

Warum lassen es sich Menschen gefallen, derart beherrscht, ja, missbraucht zu werden? Was hält Herrscher an der Spitze? Die Antwort: pure Gewalt. Wenn jeder weiß, dass Ungehorsam unerbittlich bestraft wird und der Herrscher tatsächlich der Herr über Leben und Tod ist (öffentliche Hinrichtungen!) wird niemand aufmucken.

Doch Gewalt allein reicht nicht immer, um Herrscher zu bleiben. Am besten, es kommt noch die Legitimation durch eine unsichtbare, symbolische Macht hinzu: die der Religion. Krieg im Namen der Götter! Dagegen kommt niemand an. Wenn das Volk sich allerdings andere Götter sucht, ist es vorbei mit der Legitimation. Da bietet der Monotheismus für die Herrschenden einen Vorteil. Kaiser Konstantin hat das politische Potential des Christentums klar erkannt.

Wie kommen wir aus der Nummer wieder raus?

So, jetzt wissen wir ungefähr, wie wir in diesen Schlamassel hineingeraten sind. Aber wie kommen wir da wieder raus? Okay: Wir haben gelernt, dass wir nicht per se eine kriegerische Spezies sind. 

„Nein, Menschen wollen Frieden, auch wenn sie Kriege führen. Wie ein Splitter im Verstand ist da etwas in uns, das Krieg intuitiv für einen Skandal hält“. 

(Seite 326)

Stimmt. Vor allem, wenn inzwischen 80% der Opfer Zivilisten sind. Ja, und wir wissen auch, dass Kriege nur dazu dienen, einzelne Despoten, Cliquen oder Warlords in Macht und Reichtum zu halten, ganz egal, welche Gründe sie vorschieben. Aber was tun wir jetzt konkret? Nur zu wissen, dass Kriege nicht legitim sind, genügt ja nicht. 

Die ZWÖLF LEKTIONEN gegen den Krieg auf den Seiten 329 ff legen nahe, dass man die Ursachen für kriegerische Auseinandersetzungen beseitigen muss. Also Ungleichheiten reduzieren – in materieller Hinsicht und bei den Lebensschancen. Am besten Bildung, Demokratie, Emanzipation und Gleichberechtigung – in jeder Hinsicht und für alle. Klingt einleuchtend, aber wie setzt man das praktisch um? Wenn’s leicht wäre, hätte man es vermutlich längst getan.

Diagnose klar, Therapie noch in Arbeit

Wir haben jetzt also eine Diagnose. Wir wissen, was wir falsch machen. An einer Therapie werden wir noch arbeiten müssen.

Das Sachbuch liest sich nicht so schnell und locker weg wie ein Unterhaltungsroman. Es ist zwar auch für Laien (wie mich) verständlich geschrieben, aber man muss sich schon konzentrieren, um die Erkenntnisse zu erfassen. Ich fand es sehr erhellend. Ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet, dass uns die drei Autoren eine Patentlösung dafür liefern, wie wir Kriege abschaffen können. Aber es wär’ schon schön, wenn jemand einen klugen Vorschlag hätte.

Die Autoren

Harald Meller, geboren 1960 in Olching, ist einer der prominentesten Archäologen weltweit. Als Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt rettete er unter erheblichen persönlichen Risiken die Himmelsscheibe von Nebra aus kriminellen Kreisen. Als Direktor des Museums für Vorgeschichte verzaubert er mit Ausstellungen, Büchern und Medienauftritten ein riesiges Publikum. Aktuell ist er zudem kommissarischer Direktor des als UNESCO-Weltkulturerbe eingetragenen Gartenreichs Dessau-Wörlitz. Harald Meller hat die erste internationale Ausstellung über die Archäologie des Krieges ausgerichtet. Er lebt in Halle. Mit Kai Michel schrieb Meller die Bestseller ›Die Himmelsscheibe von Nebra‹, ›Griff nach den Sternen‹ und ›Das Rätsel der Schamanin‹.

Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Seine Bücher finden sich regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Mit Carel van Schaik las er die Bibel als ›Tagebuch der Menschheit‹; gemeinsam legten sie mit ›Die Wahrheit über Eva‹ eine preisgekrönte Analyse über die Erfindung der Ungleichheit der Geschlechter vor und erklärten in »Mensch sein«, warum wir eine Existenz im Ausnahmezustand führen. Mit Harald Meller schrieb Michel die Bestseller ›Die Himmelsscheibe von Nebra‹, ›Griff nach den Sternen‹ und ›Das Rätsel der Schamanin‹. Er lebt als Buchautor in Zürich und im Schwarzwald.

Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur, Kooperation und Intelligenz bei Menschenaffen und hat viele Jahre im Dschungel Indonesiens Orang-Utans beobachtet. Er war Professor an der Duke University in den USA und Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropologischen Institut und Museum vorstand. Carel van Schaik ist korrespondierendes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften und Fellow der Max-Planck-Gesellschaft. Er lebt in Zürich. Mit Kai Michel schrieb er die Bestseller ›Tagebuch der Menschheit‹, ›Die Wahrheit über Eva‹ und ›Mensch sein‹.

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Rezensentin: Edith Nebel
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